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# taz.de -- Kitas im Corona-Lockdown: Kinder ohne Lobby
> Neben der Angst vor dem Virus herrscht nun der Wunsch nach einer neuen
> Normalität. Dabei brandmarkt man leicht die Schwächsten als Gefahr.
Bild: Die Öffnung der Kitas wirkt planlos – und wird Kinder und Erzieher*inn…
Zunächst die Bitte, die Erinnerung an Ihre Kindheit aufzufrischen. Wissen
Sie noch, wie das war damals, mit vier oder fünf? Als Sie sehnsüchtig um
Schokolade, wahlweise Ihre Lieblingsfernsehsendung bettelten? Und auf
„übermorgen“ vertröstet wurden, was begrifflich Ihr
Zeitvorstellungsvermögen überstieg?
Um dann abends heimlich durchs Schlüsselloch zu erspähen, dass das
Sich-in-Geduld-Üben für Erwachsene offenbar nicht galt (Schokolade und
Chips bei laufendem Fernseher plus Füße auf dem Couchtisch)? Das
Ohnmachtsgefühl. Die Entrüstung. Über die Erkenntnis, dass „die Großen“
durften, worauf „wir Kinder“ verzichten sollten. Was blieb, war ein
Versprechen: Wenn wir groß sind, behandeln wir Kinder fair, immer.
Und heute? Müssen wir uns dank Corona, diesem Virus, das den Blick aufs
Wesentliche schärft, eingestehen: In der Pandemie haben wir, die es besser
machen wollten, den Kindern gegenüber versagt. Und dabei geht es um mehr
als Banalitäten: Seit zehn Wochen, was sich im kleinkindlichen Zeithorizont
wie lebenslänglich anfühlt, sind Kindergartenkinder von ihren
Gemeinschaftseinrichtungen ausgesperrt und in die häusliche Isolation
gezwungen; für Millionen von [1][Schülerinnen und Schülern] stellt sich die
Lage – mit Ausnahmen – ähnlich desaströs dar (wohl dem, der wenigstens
Geschwister hat).
Während Erwachsene sich allmählich erlauben, tagsüber in ihre Büros zu
ihren Kollegen zurückzukehren, abends gesellig im Restaurant zu sitzen und
wochenends mit Freunden durch Möbelhäuser zu schlendern, sehen sie für
Kinder, die ohne soziale Kontakte und Interaktion mit Gleichaltrigen
seelisch wie körperlich verkümmern, weiterhin die Verbannung in die
Einsamkeit vor. Und reden sich dies schön mit dem (kurzsichtigen) Argument,
Kitas [2][und Schulen] seien ökonomisch bedeutungslos, verglichen mit
Baumärkten, Autohäusern, der Bundesliga.
## Die schrittweise Öffnung der Kitas kommt viel zu spät
Das ist nicht bloß bestürzend. Es ist ein Vergehen an den Kindern. Seit
Monaten werden sie, die bei einer Coronavirusinfektion viel weniger schwer
erkranken als Erwachsene, nicht zu ihrem eigenen Schutz weggesperrt,
sondern einzig – wie rechtlose Wesen – zum Schutz Dritter. Die Folgen –
Verhaltensänderungen, Entwicklungsverzögerung, Gewichtszunahme,
Leistungsverweigerung – sind bekannt.
Der internationale Forschungsstand deutet nun, Mitte Mai 2020, darauf hin,
dass das Risiko der Übertragung durch jüngere Kinder, anders als bei der
Grippe, eher gering ist und dass die Auswirkungen von Kita- und
Schulschließungen auf die Dynamik der Infektionsausbreitung wahrscheinlich
ebenfalls überschaubar sind. Aber das interessiert kaum.
Die [3][schrittweise Öffnung der Kitas] ab dem 8. Juni, die jetzt manche
Länder in Aussicht stellen, kommt nicht bloß zu spät. Sie wirkt plan- und
konzeptlos, was auch daran liegt, dass die Regeln für die Rückkehr in einen
kindgerechten Betreuungsalltag unter Pandemiebedingungen weitgehend von den
einzelnen Institutionen festgelegt werden müssen; Chaos und Überforderung
sind vorprogrammiert.
Den Kindern indes fehlt die Lobby. Zu den wenigen Stimmen, die sich von dem
Chor der Gleichgültigkeit gegen ihre missachteten Bedürfnisse abheben,
zählen die Kinder- und Jugendmediziner. Derweil beschränkt sich die
Bundesfamilienministerin auf Appelle, verweist die Bundesbildungsministerin
auf die Zuständigkeit der Länder und haben Gewerkschaften den Schutz des
Lehr- und Erziehungspersonals im Blick.
Warum? Es liegt eine bizarre Stimmung, ein Mix aus immer noch großer Angst
vor dem Virus bei zugleich wachsendem Bedürfnis nach Normalität über dem
Land. In dieser Gemengelage ist es leicht, die Schwächsten als Gefahr zu
brandmarken und so – bei allem sonstigen Öffnungsfieber – das Gewissen
damit zu beruhigen, dass man ja etwas getan habe zur Eindämmung der
Pandemie. Echt jetzt: Soll das die Kindheitserinnerung sein, die wir den
heute Vier- und Fünfjährigen mitgeben wollen für ihr Leben?
22 May 2020
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## AUTOREN
Heike Haarhoff
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