| # taz.de -- Die Wahrheit: Ein Gedicht für die beste Mutti | |
| > Muttertag verpasst? Kein Problem! Mutter hatte sowieso noch nie etwas | |
| > davon. Oder doch? Ärger, Ärger, nichts als Ärger! | |
| Bild: Blumen muss Mutti natürlich selbst pflücken an ihrem Ehrentag | |
| Die Morgensonne fiel durchs Fenster direkt auf den prächtigen Blumenstrauß. | |
| Mutter freute sich, und zwar völlig zu Recht, schließlich hatte sie die | |
| Blumen selbst gepflückt. Wer hätte das auch sonst tun sollen: wir Kinder | |
| etwa oder gar der Vater? Völliger Quatsch natürlich, denn wir wälzten uns | |
| noch wohlverdient in den Kissen und warteten darauf, dass Mutter uns | |
| endlich das Frühstück ans Bett brachte: Wurst und Bier für den guten Vater, | |
| Honigmilch und Kellogg’s Knusperflocken für uns. Nun wurde es aber auch mal | |
| Zeit. Wir konnten bereits Vaters heiseres Gebrüll hören. Wozu vertrödelte | |
| die Alte ihre Zeit damit, ungenießbares Grünzeug in eine Vase zu stopfen, | |
| während im selben Haus Menschen hungerten? | |
| Gut, heute war Muttertag. Da wollte man jetzt nicht so sein. Doch auf der | |
| anderen Seite: Zählten unsere Leben etwa nichts? Wir konnten doch nichts | |
| dafür, dass sie uns geboren hatte. Ah, endlich kam das Frühstück. | |
| Knusperflocken kauend blickten wir aus unseren weichen Federbetten hinaus | |
| auf den Nebentrakt, der Mutters Waschküche und Vaters Billardsalon | |
| beherbergte. | |
| Zum weithin sichtbaren Zeichen, dass heute Muttertag war, errichtete Mutter | |
| dort ächzend das schimmernde Mutterkreuz aus Katzenkupfer auf dem | |
| Dachfirst. Ringsherum auf den Nachbardächern taten es ihr die anderen | |
| Frauen gleich. Einige strauchelten auch unter der Last und stürzten sich zu | |
| Tode, doch keiner der Männer half ihnen. Gewiss dachten alle ähnlich wie | |
| unser Vater. „Wenn sich die Weiber hier unbedingt für gar nichts | |
| beweihräuchern müssen“, pflegte er zu sagen, „dann muss man sie nicht auch | |
| noch dabei unterstützen.“ Damit hatte er wie immer den Nagel auf den Kopf | |
| getroffen. | |
| Mutter kletterte von der Leiter, eilte wieder hinein und bewunderte mit | |
| naiver Freude erneut ihren Blumenstrauß sowie den Mutterkuchen daneben. | |
| Auch den hatte sie freilich selbst gebacken. Mehl, Wasser, Margarine. Das | |
| war besser für alle Beteiligten und vor allem Unbeteiligten. Vater brannte | |
| ja schon der Topf an, sobald er nur Wasser heiß machen wollte. Deshalb gab | |
| es auch nur kaltes Wasser zum Mittagessen, wenn Mutter nicht da war, doch | |
| zum Glück war sie eigentlich immer da, das war schließlich ihre Pflicht als | |
| Ehefrau und Mutter. | |
| ## Unverantwortlicher Halligallitag | |
| Um sie genau daran zu erinnern, war der Muttertag vielleicht sogar ganz | |
| nützlich. Dass man sich mal besann, so als Frau, und dass es eben deshalb | |
| Muttertag hieß und nicht Unverantwortlicher Halligallitag oder Lustiger | |
| Turboschlampentag oder was weiß ich. Immer schön die Kirche im Dorf lassen | |
| – so lautete das Gebot der Stunde. | |
| Dabei war Mutter ja durchaus nicht doof. Sie hatte immerhin die Mondrakete | |
| erfunden und auch selbst zusammengeschraubt. Während ihrer Zeit als Senior | |
| Head Construction Manager bei der Nasa war sie sooo dicke mit Neil, Lance | |
| und übrigens auch Louis Armstrong: In den Bars in und um Upton, Missouri, | |
| nannte man das lebenslustige Quartett aus den drei ungleichen Brüdern und | |
| der attraktiven jungen Deutschen mit dem Platinblick nur „The Fucking | |
| Four.“ Doch es war zum Glück nicht unbedingt die Zeit, da sich ein Mädchen | |
| über Gebühr selbst verwirklichte. | |
| Anstand herrschte, und der Mensch gehorchte. Also zog sich Mutter, nachdem | |
| sie unseren Vater beim Eisbeinessen im Hamelner Gewandhaus kennengelernt | |
| hatte, in den Haushalt zurück und kümmerte sich um die Kinder, die sie mit | |
| dem Ausstoß einer, zugegebenermaßen langsamen, Tennisballmaschine warf. | |
| ## Grandmaster Flash in Astrophysik | |
| Letztlich hatte sie ihren Grandmaster Flash in Astrophysik für die Familie | |
| und nicht zuletzt auch Vaters Karriere geopfert: Seit zwanzig Jahren war | |
| der nun stolzer zweiter Hallenwart in der Turnhalle der | |
| Salomon-Hurtig-Grundschule. Sofern er es geschickt anstellte, könnte er in | |
| zehn Jahren bis zum dritten Hallenwart aufsteigen, und kurz vor seiner | |
| Pensionierung am Ende gar zum vierten. Der vierte Hallenwart durfte immer | |
| die Fußkäsematten ausbürsten, und alles, was er darin fand, mit nach Hause | |
| nehmen: ein großes Privileg. | |
| Wir Kinder konnten auch nicht in der Küche helfen. Wir waren schließlich | |
| fünf Jungen. Und hätte auch nur einer einmal eine Gabel abgespült, wären | |
| uns ad hoc die Klöten abgefault. So hatte zumindest Vater gewarnt. Ein | |
| Junge hatte sich seine Kraft für den Sport, die Jagd und den Krieg | |
| aufzusparen. Da blieb keine Zeit für Mädchenkram. Als Vater kurz aus dem | |
| Zimmer war, wollten wir trotzdem schnell ein Gedicht aufsagen: „Du liebe, | |
| gute Mutter …“, fingen wir an, doch Mutter brachte uns zum Schweigen, indem | |
| sie den Tisch und alle Stühle umwarf. | |
| „Liebe Mutter, pah, geschissen!“, schnaubte sie. Sie wirkte ziemlich | |
| geladen, wie überhaupt seit dreißig Jahren schon, denn exakt so lange | |
| wartete sie nun darauf, dass unser ältester Bruder Holger endlich auszog. | |
| Holger the Folger. Windeln wechseln, Schuhe zubinden, politisch | |
| rechtslastige Streitgespräche am Mittagstisch führen – von alledem hatte | |
| sie schön langsam den Kragen voll. Es wäre echt super gewesen, den Aufwand | |
| nur noch mal vier anstatt mal fünf zu haben. Aber das Leben ist nun mal | |
| kein Wunschkonzert – das hatte Vater ihr bereits prophezeit, als die beiden | |
| damals im Besucherraum seiner Haftanstalt geheiratet hatten. Der | |
| Gefängnisdirektor hatte wissend dazu genickt und an einem mürben Gürkchen | |
| gekaut. | |
| Auf einmal wurde es ganz schnell dunkel, obwohl es erst vier Uhr | |
| nachmittags war. Vielleicht ging die Uhr ja falsch, aber egal: Mutters | |
| großer Tag war jedenfalls vorüber, doch sie freute sich schon wie eine | |
| Schneekönigin aufs nächste Jahr. | |
| 11 May 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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