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# taz.de -- Die Wahrheit: Unser Dorf soll hässlicher werden
> In Berlins Vorzeigeviertel Wrangelkiez ist die Hölle los: Es könnte eine
> Verbesserung des Lebens drohen und sogar eine Verkehrsreduzierung.
Bild: Im Kiez frohlockt die Folklore
Der Wrangelkiez im Berliner Stadtteil Kreuzberg weist die ortsüblichen
Mentalitätsverwachsungen auf: Wer fünfzehn Jahre in diesem selbst ernannten
Gallischen Dorf lebt, spricht gern jenen das Wohn- und Mitspracherecht ab,
die dort erst zehn Jahre wohnen; die wiederum blicken auf die dreijährigen
Frischlinge herab. Was alle Teilnehmer an dem Verachtungsbingo eint, ist
jedoch die berechtigte Angst vor der Verdrängung.
Das erklärt immerhin zum Teil die Reaktionen mancher Bewohner auf die
geplante, und eigentlich dringend notwendige, Verkehrsreduzierung in dem
engen Viertel: „Wenn man den Verkehr reduziert, dann wird die Gegend noch
beliebter und noch teurer“, lautet das Argument. Eine entsprechende
Petition gegen die Sperrung für den Durchgangsverkehr hat bereits
dreitausend Unterschriften.
Die Anwohner haben eine Position der eigenen Macht- und Rechtlosigkeit
offenbar dermaßen verinnerlicht, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen
können, bezahlbaren Innenstadtwohnraum ohne irgendwelche Haken beanspruchen
zu dürfen. Den haben sie doch gar nicht verdient, oder? Je unattraktiver
der Standort, je niedriger die Lebensqualität, so die Logik der Bedrängten,
desto wirksamer können Besserverdienende abgeschreckt werden. Ein ähnliches
Phänomen kennen wir aus der Natur: Der Fuchs scheißt sich in den Bau, um
dem Dachs die Übernahme zu vergrämen.
Dabei fragt man sich hier jetzt schon, wie man den Wohnkomfort überhaupt
noch mindern kann: Jede fucking Nacht, die ein hirnverbrannter Herrgott
über diesen Amüsiertodesstreifen senkt, schreien Dealer und Obdachlose,
Touristen und Jungberliner unten vor dem Fenster mit den Koksern oben auf
der Dachterrasse wie am Spieß um die Wette. Doch die Antwort gibt die nun
anlaufende Aktion „Verelendung fördern – Gentrifizierung stoppen!“
## Einschusslöcher fürs Ambiente
Zunächst mal werden aus allen Häusern die Heizungen entfernt, dann wird der
Putz von den Fassaden geschlagen. Frische Einschusslöcher kommen quasi wie
von selbst dazu, denn von der Kiezinitiative „Unser Dorf soll hässlicher
werden“ bezahlte und ausgerüstete Gangs streifen nachts durch die Straßen.
Die auch untereinander rivalisierenden Gruppen machen die Gegend unsicher,
indem sie randommäßig Passanten massakrieren. Das „Prussian Roulette“
spricht sich international herum. In your face, Investor!
Der Teufel Neoliberalismus wird mit dem Beelzebub Verslumung gründlich
ausgetrieben. „Wenn wir mit der Entmodernisierung durch sind“, bekräftigt
Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne), „kann John Carpenter hier
die ‚Klapperschlange III‘ drehen.“
Von den ursprünglichen Planern lernen heißt siegen lernen, denn das neue
Zauberwort lautet „Verkehrsbeunruhigung“. Anstatt die Autos um den Kiez
herumzuleiten, werden sie nun explizit hindurchgeschleust, indem die
angrenzenden Hauptstraßen zu Fußgängerzonen umgewidmet werden. Die Führer
von Erntemaschinen, Panzern und Sattelschleppern lockt man zusätzlich mit
großzügigen Rabatten für die ansässige Bio Company.
Zwischen den dort auf dem Gehsteig parkenden Mähdreschern quetscht sich
Gundula Theuse (28) mit ihrem Kinderwagen hindurch. „Ihr kriegt uns hier
nicht raus“, brüllt die junge Mutti mit Ton, Steine, Scherben gegen das
ohrenbetäubende Rasseln der sich rundum stauenden Ketten-SUVs der Marke
„Leopard III GTI“ an. Sie wirkt erleichtert, hatte sie doch die Kündigung
für ihre Dreizimmerwohnung bereits in der Tasche: angeblicher Eigenbedarf.
Auf Knien nahm der Vermieter sein Schreiben erst gestern zurück und
minderte die Miete um zwei Drittel.
## Überfahrene Hyäne in der Gosse
Wo vor Kurzem noch die Tauben nervten, streiten sich Schmutzgeier um die
Filetstücke einer überfahrenen Hyäne. Ratten huschen den Besuchern der
Branntweinspelunken über die Beine. Es stinkt entsetzlich. Die Müllabfuhr
ist flächendeckend abbestellt, die Kanalisation stillgelegt; dafür werden
die Nachttöpfe aus den Fenstern heraus einfach direkt in die Gosse
entleert.
Über Kinderkrankheiten wie den Ponyschnupfen Covid-19 wird hier nur
gelacht. Die Pest rafft so viele dahin, dass in dem beliebten Viertel mehr
Wohnungen freistehen, als es Interessenten gibt. Die Aktion ist in der Tat
ein voller Erfolg. Jemand hat die in den Straßen herumliegenden Leichen mit
Kalk bestreut, könnte aber auch Koks sein. Die alte Partymeile ist
buchstäblich nicht totzukriegen.
„Jetzt ist es hier fast schon wieder wie früher.“ Igor Satan (66) zeigt ein
zahnloses Grinsen unter der grauen Kapuze seiner zerlumpten Kutte. Für den
prekären Schinder sind die Maßnahmen zur Abwertung des Viertels wie sechs
Falsche im Lotto, denn für nur wenige Kreuzer pro Nacht kann man in einer
der vielen Ruinen auf einem Strohsack logieren. Endlich konnte er seinem
unfreiwilligen Exil im Villenviertel Grunewald den Rücken kehren. Die Leute
waren ihm dort zu langweilig, die Luft war zu frisch und der Straßenlärm zu
leise. Aber die Mieten waren eben vergleichsweise bezahlbar. Das sind sie
hier nun auch wieder – dem Verelendungsprogramm sei Dank.
28 Jul 2020
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Kreuzberg
Gentrifizierung
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