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# taz.de -- Corona-Lockerungen in Deutschland: Das Vertrauen schwindet
> Wenn Regierungen Vorschriften erlassen, die sie gar nicht kontrollieren
> können, dann hat der Staat ein Problem.
Bild: Wer kann das coronamäßig angemessene Verhalten da noch kontrollieren?
Ich lebe in einem gut funktionierenden Staat, gemessen am Rest der Welt –
und ich empfinde das durchaus als Privileg. Wie scharf ich meine jeweilige
Regierung auch kritisiere, wie sehr ich mich über die Verwaltung immer mal
wieder ärgere: Der Maßstab war stets, dass „der Staat“ und alle seine
Instanzen, bis hinunter auf die niedrigste Ebene, funktionierten. Darauf
habe ich als Bürgerin eines demokratischen Landes einen Anspruch. Und der
wurde seit Jahrzehnten, von Schönheitsfehlern abgesehen, weitgehend
erfüllt. Ich habe mich darauf verlassen können.
Vorbei. Seit einigen Tagen beobachte ich – ziemlich fassungslos –, wie
ausgerechnet hochrangige Politikerinnen und Politiker diesen Anspruch
untergraben. Sie erlassen Vorschriften, die von den zuständigen Stellen
nicht mehr zu überprüfen sind. Anders ausgedrückt: Sie hindern Polizei und
Ordnungsamt daran, ihren Job zu machen.
Konkret. Wenn sich Personen aus zwei Haushalten – aber nicht aus drei oder
vier – miteinander treffen dürfen und diese Regel auch durchgesetzt werden
soll, dann machen sich Ordnungskräfte zwangsläufig zu Clowns. Zehn Personen
sitzen gemeinsam auf dem grünen Rasen. Auftritt Polizei: „Ihre
Personalausweise, bitte.“ Alle kommen bereitwillig der Aufforderung nach.
Und erklären sogleich, dass sie in – zwei – WGs leben und mit jeweiligem
Erstwohnsitz noch bei den Eltern gemeldet sind. Theorie? Aber nein. Alltag.
Was genau soll die Polizei machen? Die Schultern zucken und sich höflich
für die Belästigung entschuldigen? Oder die Daten jedes und jeder Einzelnen
genau überprüfen, die da auf der Wiese sitzen? Beides ist lächerlich.
Der Sinn genau dieser Regelung erschließt sich mir ohnehin nicht. Wenn ich
mit drei anderen Leuten zusammenlebe und wir uns jeden Tag mit genau einer
anderen Wohngemeinschaft treffen, die das auch exakt so praktiziert – wir
alle uns also sklavisch an die Buchstaben der gerade geltenden Verordnung
halten –: warum und inwiefern gefährdet dies die Volksgesundheit weniger,
als wenn wir gleich mit 200 oder 400 oder 4.000 Leuten Party machen?
Spielen wir da nicht gerade die Weizenkornlegende des Schachbretts nach?
Eine Antwort auf diese Frage werde ich wohl nicht bekommen. [1][Das RKI
hält keine regelmäßigen Pressekonferenzen mehr ab.] Über die Gründe wird
viel spekuliert. Ich glaube, es ist gar nicht so kompliziert. Die
Wissenschaftler sind beleidigt. Schlechte Presse mögen sie nicht – wer mag
die schon –, und die haben sie zum Teil bekommen. Jetzt reden sie halt
nicht mehr mit uns. Manchmal ist die nächstliegende Erklärung auch die
zutreffende.
Die Polizei kann nicht die beleidigte Leberwurst geben. Sie muss tun, was
immer die Politik ihr aufträgt. Und hat jetzt ein Problem. Sie war ja auch
bisher nicht unterbeschäftigt. Morde, Drogenhandel,
Geschwindigkeitsübertretungen: Sie hatte zu tun. All das gibt es auch in
Coronazeiten. Und jetzt muss sie zusätzlich die Einhaltung komplizierter
Regelungen überprüfen, die weder von ihr noch von der Öffentlichkeit genau
verstanden werden. Das wird nicht funktionieren.
Und das ist nicht egal. Wenn Gesetze und Verordnungen erlassen werden, über
die sich alle lustig machen und die man leicht umgehen kann, verlieren
diese das, was in einem demokratischen Staat das Wichtigste ist: das
Vertrauen der Mehrheit, dass alles schon irgendwie seine Richtigkeit haben
wird.
Eine 89-jährige Bekannte denkt derzeit ernsthaft darüber nach, wie sie eine
Person in ihre abgeschottete „Seniorenresidenz“ schmuggeln kann. Ich denke,
der Staat hat ein Problem. Ein selbst verschuldetes, mit weitreichenden
Folgen.
9 May 2020
## LINKS
[1] /RKI-beendet-Pressekonferenzen/!5683557/
## AUTOREN
Bettina Gaus
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