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# taz.de -- Nachruf auf Norbert Blüm: Ein Mann, der von Nähe lebte
> Norbert Blüm führte die Pflegeversicherung ein und war Verteidiger der
> gesetzlichen Rente – trotz Kompromissen und Missverständnissen.
Bild: Bundesarbeitsminister Blüm bei einer Sitzung in Bonn 1989
Berlin taz | Diesem Mann konnte man nicht böse sein, und genau das war sein
Geschäftsmodell. Es war sein Modell der politischen Repräsentation, die zu
seiner Zeit immer auch ein Versuch der Versöhnung war zwischen links und
rechts. Man merkte ihm an, dass diese Versöhnungsversuche Kraft kosteten,
und das machte ihn nahbar und beliebt. Was ihm schmeichelte, denn er war
durchaus auch ein Angeber, ein eher kleingewachsener Mann mit großer Klappe
und einem kabarettkompatiblen hessischen Zungenschlag.
Norbert Blüm, Werkzeugmacher, Doktor der Philosophie, Katholik, Kabarettist
und langjähriger CDU-Sozialminister unter der Regierung Helmut Kohl, ist am
Donnerstag im Alter von 84 Jahren gestorben.
Schon die letzten Nachrichten von Blüm waren traurige. Nach einer
Blutvergiftung war er von der Schulter abwärts gelähmt, saß zu Hause in
Bonn im Rollstuhl. Wie eine Marionette ohne Fäden fühle er sich, ließ er
mitteilen. Man hätte ihm sehr gewünscht, dass ihm am Ende seines Lebens
eine solche Herausforderung für Tapferkeit und Durchhaltevermögen erspart
geblieben wäre.
Blüm war sowohl gewerkschaftsaffin als auch kirchennah, seine Biografie
wies eine Lehre in der Fabrik, aber auch ein Studium mit Promotion auf.
Geboren in Rüsselsheim, ging er nach dem Abschluss der Volksschule als
14-Jähriger 1949 drei Jahre lang zu Opel in eine Lehre als Werkzeugmacher.
In diesem Beruf arbeitete er bis 1957.
## Der missverstandene Renten-Spruch
Danach holte er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nach und studierte
an der Universität Bonn die Fächer Philosophie, Germanistik, Geschichte und
Theologie, wobei er auch Veranstaltungen von Joseph Ratzinger, dem späteren
Papst, besuchte. Er promovierte in Philosophie.
Blüm war in seiner Jugend Messdiener und Sankt-Georgs-Pfadfinder gewesen.
1950, also mit 15 Jahren, trat er in die IG Metall ein und im selben Jahr
auch in die CDU. Aus heutiger Sicht hätte man ihn politisch mehr der SPD
zugeordnet, aber das „[1][sozialdemokratische Fahrwasser“,] so erzählte der
Katholik später, sei irgendwie nicht sein Fahrwasser gewesen. Also die CDU,
wo er dem linken Flügel angehörte und als Bundesarbeitsminister in der
christlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl zwischen 1982 und 1998
seine politisch wichtigste Zeit erlebte.
Bekannt wurde Blüm durch den Spruch: „Die Rente ist sicher“, der ihm Spott
und Häme einbrachte, weil er später an Rentenreformen beteiligt war, die
die Kürzung des Altersruhegelds mit sich brachten. „Die Rente ist sicher“
galt ab sofort für viele Kritiker als ein Beispiel nicht eingehaltener
politischer Versprechen. Tatsächlich aber ist die Betrachtung der Genese
dieses Spruchs ein Beispiel, wie politische Aussagen verfremdet, neu
kontextualisiert und von der Gegenseite instrumentalisiert werden können.
Was Blüm da im Wahlkampf 1986 plakatierte, war nämlich der Spruch: „Denn
eins ist sicher: die Rente.“ Das ist nicht ganz das Gleiche. Zur Höhe der
gesetzlichen Rente im Auf und Ab der kommenden Reformen ist damit nichts
versprochen und nichts garantiert.
## Urheber der Pflegeversicherung
Nach den Erfahrungen der Finanzkrise, einbrechenden Aktienmärkten und einer
[2][Riester-Rente, die zwar in der Verwaltung teuer] ist, aber den Ärmeren
nichts bringt, hielt Blüm erst recht an seiner Verteidigung der
gesetzlichen Rente als allerwichtigstem Alterssicherungsmodell fest. Bei
einem Auftritt vor sechs Jahren in der Satiresendung „[3][Die Anstalt“] im
ZDF zum Rententhema heimste er damit Beifall ein.
Blüm erzählte gerne aus seiner Lebensgeschichte und zelebrierte dabei eine
Mischung aus Nähe und Bescheidenheit, die gut ankam bei Menschen, die zwar
über eine Wählerstimme, aber nicht über Privilegien verfügen. In einem
Hintergrundgespräch zum Thema Hospize und Sterbehilfe in den 90er Jahren
schilderte Blüm eindringlich eine Sterbebegleitung in seiner Familie,
manchen JournalistInnen standen darob Tränen in den Augen. Diesem Mann nahm
man alles ab.
Als Minister war er ein harter Arbeiter, ein richtiger Facharbeiter für
Sozialpolitik. Er begleitete die deutsche Einheit, als über Nacht Millionen
Ostdeutsche in das deutsche Rentensystem und in die
Arbeitslosenversicherung eintraten.
Obwohl die Finanzlage der Sozialkassen angespannt war, schaffte es Blüm, ab
1995 die Pflegeversicherung einzuführen. Es war die letzte große
Sozialreform, die ein Abgabensystem aus Beitragsmitteln der erwerbstätigen
Bevölkerung installierte. Mit der steigenden Massenarbeitslosigkeit
entbrannte kurz darauf eine Diskussion über die hohen „Lohnnebenkosten“ –
es wäre dann nicht mehr möglich gewesen, eine solche Versicherung
aufzubauen, die Hunderttausende Pflegebedürftige vor der Aufzehrung ihres
Vermögens und dem Gang zum Sozialamt bewahrt, auch wenn deren Ausgestaltung
heute wieder als zu gering anmutet.
## Kritiker der Hartz-Reformen und Konservativer
Blüm, den Franz Josef Strauß einmal als „Herz-Jesu-Marxist“ bezeichnete,
musste als Minister in einer christlich-liberalen CDU/FDP-Regierung aber
auch Unerfreuliches exekutieren. Er habe eine Zeitlang die
„Rücktrittserklärung immer in der Tasche“ gehabt, erzählte er später.
Es war ein Vor und Zurück: Unter seiner Ägide wurde die Bezugsdauer für das
Arbeitslosengeld erst auf 32 Monate verlängert, dann in den 90er Jahren
wieder für bestimmte Altersgruppen verkürzt. Das Rentenzugangsalter wurde
für bestimmte Gruppen erhöht. Lange Studienzeiten zählten bei der Rente
nicht mehr. Der Streikparagraf, der den Bezug von Kurzarbeit für Streikende
einschränkt, war schon 1986 in seiner Ministerzeit beschlossen worden und
trug ihm den Verdacht ein, ein Verräter an der gewerkschaftlichen Sache zu
sein.
Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt und dem politischen
Abschied auf Raten äußerte sich Blüm immer wieder politisch. Er war
Kritiker der Hartz-Reformen.
Der langjährig verheiratete dreifache Familienvater konnte aber auch mit
vielen gesellschaftlichen Trends nichts anfangen und blieb ein
Konservativer. Er polemisierte gegen die gleichberechtigte Ausgestaltung
der Homoehe und sah die zunehmende Kinderbetreuung außerhalb der Familie
kritisch. Mit einer Kabarettshow gemeinsam mit Ex-„Tatort“-Kommissar Peter
Sodann erntete er nur mäßigen Erfolg.
„Soziale Marktwirtschaft“, hatte Blüm mal gesagt, „das ist auch ein
Friedensangebot.“ Wie das in einer globalisierten Welt funktionieren soll,
darauf konnte er keine Antwort geben. Musste er aber auch nicht.
24 Apr 2020
## LINKS
[1] https://www.deutschlandfunk.de/die-renten-sind-sicher.1295.de.html?dram%3Aa…
[2] /Rente-und-Altersarmut/!5354637
[3] https://www.youtube.com/watch?v=I6R0onTpB3g
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
Norbert Blüm
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Helmut Kohl
Rente
Pflege
Altersvorsorge
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