# taz.de -- Erinnerungen an Ruanda: Die Stärke der Mutter | |
> Dem Völkermord vor 26 Jahren fielen viele Verwandte unserer Autorin zum | |
> Opfer. Die Familie aber konnte er nicht zerstören. | |
Bild: Das Hotel Des Mille Collines in Kigali, bekannt als „Hotel Rwanda“ | |
Diese Kolumne heißt „Bei Aller Liebe“ und es ist höchste Zeit für einen | |
Liebesbrief. | |
Vor 26 Jahren versteckte ich mich mit meiner Mutter, meinem Vater, meinen | |
Schwestern und einigen Verwandten und Freunden in unserem Haus in Kigali. | |
Wir versteckten uns vor den Hutu-Milizen, die am 7.4.1994 mit dem Genozid | |
an die Tutsis begannen. Nach 100 Tagen fielen fast eine Million Tutsis und | |
einige moderate Hutus diesen mordenden Banden zum Opfer. Darunter mein | |
Vater, meine Onkel, meine Großeltern mütterlicherseits und väterlicherseits | |
und unzählige anderen Verwandte, Freunde, Nachbarn und Bekannte. | |
Wir versteckten uns eine Weile in unserem Haus und irgendwann wurde es zu | |
unsicher und wir fanden in der Schule, in der mein Vater als Co-Rektor | |
arbeitete, Zuflucht. Mit anderen Familien verbrachten wir Wochen in dieser | |
Schule. Am Abend des 30. Aprils stürmten bewaffnete Milizen unser Versteck, | |
nahmen die Männer mit und ließen Kinder und Frauen zurück. Sie brachten | |
meinen Vater und unzählige andere um. Als wir Schüsse hörten, fragte ich | |
meine Mutter, ob das mein Vater sei, der gerade umgebracht wird. Ich kann | |
mich nicht mehr an ihre Antwort erinnern. Ich kann mich an vieles nicht | |
erinnern. Meine Erinnerungen vermischen sich mit denen anderer. | |
Was ich niemals vergessen werde, ist, wie stark meine Mutter immer war. Und | |
ich frage mich jeden Tag, wie sie es gemacht hat. 1994 war sie 36 Jahre | |
alt. Fünf Jahre älter, als ich heute bin. Sie hatte gerade ihre große | |
Liebe, ihre Eltern und Verwandten verloren und blieb mit drei kleinen | |
Kindern zurück. Ihr ganzes Leben wurde von einem Tag auf den anderen auf | |
den Kopf gestellt. Das stärkste Bild, das ich vor Augen habe, ist, wie | |
meine Mutter meine jüngste Schwester, die damals ein sechsmonatiges Baby | |
war, auf dem Rücken trug. Tag ein, Tag aus. | |
Nach dem Tod meines Vaters haben wir uns im später als Hotel Rwanda berühmt | |
gewordenen Hotel Des Mille Collines versteckt. Ein Hutu-Soldat sollte uns | |
von der Schule zu dem Hotel bringen. Nicht umsonst, versteht sich. Also | |
ging meine Mutter los zu unserem alten Haus in der Nachbarschaft und holte | |
Geld. | |
Im Hotel Mille Collines kam einmal ein schmieriger katholischer Geistlicher | |
in unser Zimmer und wollte eine junge Frau, die sich mit uns versteckte, | |
mitnehmen. Während des Genozids wurden laut Schätzungen 250.000 bis 500.000 | |
Frauen vergewaltigt. Meine Mutter stellte sich dem Mann unerschrocken | |
entgegen, lenkte ihn ab und rettete so dieser Frau das Leben. | |
Als der Genozid im Juli 1994 zu Ende war, kümmerte sich meine Mutter nicht | |
nur um mich und meine Schwestern, sondern auch um Verwandte, die wir tot | |
glaubten und die nach und nach in unser Leben zurückkehrten. Wir zogen in | |
unser altes Haus mit all den furchtbaren Erinnerungen zurück, aber mit | |
meiner Mutter fühlte ich mich selbst in der schlimmsten Zeit meines Lebens | |
immer beschützt. Ich weiß nicht, wie sie es macht. | |
10 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Anna Dushime | |
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