# taz.de -- Estland startet globale Lösungssuche: Hacks gegen Corona | |
> Die Coronakrise verlagert vieles ins Netz – auch die Suche nach Lösungen | |
> für Probleme, die durch die Pandemie entstanden sind. | |
Bild: Offline-affin: Estland | |
Berlin taz | Die Estin Elis Tootsman liest keine Zeitung mehr, weiß nicht, | |
welcher Tag eigentlich ist. Ihre ganze Energie will sie in Lösungen | |
stecken. Lösungen für Probleme, die die [1][Coronakrise] aufwirft. Mitte | |
März organisierte sie einen Online-Hackathon in Estland mit. Durchgeführt | |
von Accelerate Estonia und Garage48 und anderen Firmen aus der estnischen | |
Start-up-Szene. An diesem Donnerstag startet der nächste. Er ist noch | |
größer und globaler als der im März. Bei einem [2][Hackathon] suchen | |
Designer, Projektentwickler und Programmierer in einem bestimmten | |
Zeitfenster gemeinsam nach Lösungen. | |
Tootsman kann nicht fassen, was sich gerade abspielt. „Wir konnten uns im | |
Traum nicht vorstellen, dass die Idee global wird, dass sie so einschlägt – | |
ich habe da keine Worte für“, meint sie beim Videoanruf und schüttelt | |
ungläubig den Kopf, schlägt die Hände vor das Gesicht. Sie spricht schnell, | |
mitreißend. Das, was Tootsman nicht fassen kann, begann am Donnerstag, dem | |
12. März. Idee und Umsetzung dauerten sechs Stunden. Am nächsten Tag | |
startete der Online-Hackathon – und wurde unerwartet global: Über 1.000 | |
Teilnehmer*innen aus über 20 Ländern und 15 Zeitzonen waren dabei. Auch | |
Deutsche. | |
Noch an diesem Donnerstag im März hatte Tootsman, die bei Accelerate | |
Estonia – einer Plattform für Ministerien, den öffentlichen und privaten | |
Sektor, um Innovationen zu fördern – arbeitet, einen Anruf von Kai Island | |
von Garage48 – ein Start-up, das eine Art Silicon Valley in Estland | |
aufbauen will – bekommen: „Kannst du ein bisschen helfen?“ Heute sei dies | |
ein Joke. „Wenn Kai dich fragt, ob du ein bisschen Zeit hast, renne so | |
schnell du kannst“, lacht Tootsman. Denn 17 Stunden arbeitet sie nun am | |
Tag. Ehrenamtlich, wie alle im Team. Anfangs waren sie zu fünft, nun sind | |
sie mehr als 20. Beim Hackathon im März entstanden 30 Ideen. Acht davon | |
sind bereits umgesetzt. | |
Darunter ein vom estnischen Staat anerkannter automatisierter Chatbot | |
„Suve“, der vertrauenswürdige Informationen zur Coronakrise liefert, eine | |
Plattform, auf der Firmen, die momentan keine Arbeit haben, ihre | |
Arbeiter*innen ausleihen können an Firmen mit viel Arbeit. Eine weitere | |
vermittelt medizinisches Personal. | |
## Hoffnung in der Krise | |
Dann der Schneeballeffekt: Innerhalb einer Woche wuchs die Bewegung auf | |
100.000 Interessierte aus dem öffentlichen Dienst und Programmierer*innen | |
in 47 Ländern an. Indien, Georgien, Brasilien oder auch Deutschland | |
starteten jeweils einen lokalen Hackathon. Hierzulande wurde es einer der | |
größten mit über 20.000 Teilnehmer*innen. Der „Global Hack“ vom 9. bis 1… | |
April ist nun im Kern wieder von Estland aus organisiert. | |
Die globale Coronakrise sei „gruselig und traurig: Die ganzen Kranken und | |
Toten“, findet Tootsman. Sie will den Menschen Hoffnung geben und anpacken. | |
Das analoge [3][Leben ist überall heruntergefahren]. Im Netz geht es | |
dagegen ab. „Online ist momentan der beste Ort, um sich zu vernetzten und | |
unser Leben in dieser Situation zu optimieren.“ | |
Dass die Idee ausgerechnet im kleinen Estland entstand und sich von dort | |
aus wie das Coronavirus weltweit verbreitet, sei „typisch estnischen | |
Dingen“ zu verdanken – da sind sich Tootsman und ihre Mitstreiterin | |
Katharina Sowa einig. Sowa kommt aus Deutschland, arbeitet aber nun in | |
Tallinn für eine Softwarefirma. Estland sei klein, schnell und offen. Die | |
Start-up-Szene gut vernetzt. Jeder kenne jeden. „Da ist es leicht, etwas | |
auf die Beine zu stellen. Wir nennen das die Estland-Mafia“, erzählt Sowa. | |
## Verrückte Ideen | |
Zudem sei der öffentliche Sektor Estlands „verrückte Ideen“ gewohnt, meint | |
Tootsman. Die Mentalität der Est*innen in Krisenzeiten: „Lass es uns | |
ausprobieren mit dem, was wir haben, wenn es nicht funktioniert, machen wir | |
es halt anders“, erklärt Sowa ihre estnische Erfahrung. Estland sei ein | |
„digitales Wunderkind“. In der Coronakrise ins Homeoffice zu wechseln oder | |
Schule online zu veranstalten – das sei für die Esten „kein großes Ding�… | |
im Gegensatz zu Deutschland, grinst Sowa. | |
Motivierend sei auch die große Unterstützung durch die Politik. „Unsere | |
Präsidentin Kersti Kaljulaid und der Ex-Präsident Toomas Hendrik Ilves | |
investieren sehr viel Zeit. Sie sind auch am Wochenende erreichbar.“ Der | |
Unterschied zu früheren Hackathons sei, dass private und öffentliche | |
Akteure an einem Strang ziehen, erklärt Tootsman. | |
Den „Global Hack“ unterstützen so der Schachweltmeister Garry Kasparowv und | |
der Chef von OpenAI – ein Unternehmen, das künstliche Intelligenz erforscht | |
und unter anderem finanziert wird durch Microsoft und den Unternehmer Elon | |
Musk, der PayPal und Tesla mitgründete, sowie die Europäische Kommission | |
und die Vereinten Nationen. 195.000 Euro stehen nun allein für die | |
Gewinnerideen zur Verfügung. | |
Tootsman ist überzeugt: „Die vielen Ideen werden das Leben, wie wir es | |
kennen, nachhaltig verändern.“ Über 7.000 Menschen tauschten online von | |
Anfang April bis Donnerstagmittag bereits knapp 600 Projektideen aus. Etwa | |
die nächste [4][Pandemie] verhindern durch eine Kampagne gegen den Verzehr | |
von Wildtieren und das Vordringen in ihre Lebensräume. Oder eine leicht zu | |
bedienende Webkamera für alte Menschen, damit sie mit der Familie in | |
Kontakt bleiben können. Teams aus Spezialist*innen tüfteln ab | |
Donnerstagnachmittag bis Sonntag an Lösungen. | |
9 Apr 2020 | |
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[4] /Europaeischer-Forschungsrat/!5677728&s=pandemie/ | |
## AUTOREN | |
Mareike Andert | |
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