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# taz.de -- Literaturtheoretiker Terry Eagleton: Tod, Tragik, Opfer
> Der marxistische Literaturtheoretiker Terry Eagleton denkt über religiöse
> Opfer nach – und landet schließlich bei der Revolution.
Bild: Opfer, Quasimärtyrer: Ärzte arbeiten auf der Intensivstation des San Ma…
In unsicheren Zeiten verlässt man sich gern auf Autoren, bei denen man
weiß, was man bekommt. Das gilt auch für den marxistischen
[1][Literaturtheoretiker Terry Eagleton], der inzwischen über 40 Bücher
publiziert hat und sein neues Buch dem Opfer widmet. Er nimmt sich damit
eines Themas an, das nicht sonderlich weit oben auf der Liste linker
Theoriebildung steht.
Eagleton selbst beschäftigt sich nicht zum ersten Mal mit Themen wie Tod
oder Tragik. Was recht ungewöhnlich sein mag für einen Marxisten: Er widmet
sich in „Opfer“ ausführlich dessen judäo-christlichem Verständnis. Sein
Ziel ist es, den „radikalen Kern“ der Praxis aus ihrer „mystischen Hülle…
zu schälen. Opfer, das ist Geschenk, Gebet, Gemeinschaft, die Tilgung von
Schulden. „Das Opfer beginnt als Versuch, einen wilden Gott zu besänftigen,
und gipfelt im Ruf des faschistischen Vaterlandes mit seinen nekrophilen
Riten und Zeremonien der Selbstaufopferung.“
Von den religiösen Texten wandert Eagleton ins Feld der Philosophie und der
Literaturwissenschaft, wo er alle erdenklichen Varianten des Nachdenkens
über das Opfer zitiert. Das ist ein lockeres, assoziatives Treiben von
einem Denker zum nächsten. Und liest sich unterhaltsam, vor allem in den
Nebensätzen: „Jacques Derrida zum Beispiel vertritt die seltsame Ansicht,
dass der Akt des Gebens durch Gegenseitigkeit ruiniert wird. […]
Weihnachten hätte man nicht gerne im Derrida-Haushalt verbracht.“
Trotzdem hat man den Eindruck, nicht ganz zu verstehen, worauf der Autor
nun eigentlich hinauswill. Wir haben es daher mit dem eigentümlichen Fall
eines Buches zu tun, das gelungen und nicht gelungen ist. Gelungen in dem
Sinne, dass es die wichtige Frage nach der Logik des Opfers stellt.
## Opfer im Sinne von Quasimärtyrer
Völlig unverhofft hat Eagleton ein Buch über das Opfer just in dem Moment
geschrieben, in dem permanent die Rede davon ist. Und zwar im Sinne des
Quasimärtyrers in Form der unermüdlichen Pflegekräfte und Ärzte, die ihre
Gesundheit, ja ihr Leben aufs Spiel setzen, weil sie in nicht adäquater
Schutzkleidung arbeiten.
Eagleton jedenfalls löst die Idee des Opfers aus dem religiösen Raum, wo es
entweder Sündenbock oder Märtyrer meint, und überblendet es mithilfe
psychoanalytischer Theorie: „Wenn die Götter Opfer verlangen, machen sie
sich lustig über uns. Denn sie wissen, dass wir sie nicht besänftigen
können, weil das Über-Ich sich in seinem Sadismus bewusst ist, dass das Ich
nie mit seinen erbarmungslosen Diktaten mithalten kann.“
Das führt durchaus zu interessanten Perspektiven. Warum muss man dann also
von einem Text sprechen, der ebenso nicht gelungen ist? Man fragt sich
eben, wie sich all die klugen Gedanken mit marxistischer Theoriebildung
überblenden lassen. Denn, das ahnt man, darum geht es ihm. Die Frage stellt
man sich über knapp 150 Seiten hinweg.
## Revolution als moderne Version des Opfers
Viel mehr als ein oder zwei Marx-Zitate werden auf diesem Wege nicht
eingeflochten. Aufgeklärt wird man dann erst auf der letzten Seite, im
letzten Satz. Und darin beweist Eagleton echte Chuzpe. Der Satz nämlich,
Spoiler-Alarm, lautet: „So gesehen ist die Revolution eine moderne Version
dessen, was in der Antike als Opfer galt.“
Das kommt dann doch so unvermittelt, hinterlässt so viele Fragen, dass man
an dieser Stelle weiterlesen, weiterdenken möchte. Nun, das Nachdenken
verbietet sich dem Leser natürlich nicht. Trotzdem bricht das Buch an der
falschen Stelle ab.
Jesus, den Eagleton zuvor bereits als radikalen Revolutionär deutete,
richtete seine Botschaft an die Armen. Sie, die am Rande stehen, werden zum
Zentrum seiner Wahrheit. Ihre Armut ist Anklage des bestehenden Systems,
dessen Kern sie (interessante Aporie) zugleich bilden.
Was hilft? Eine Revolution nach Jesu Vorbild? Eine Vertreibung aus dem
Tempel! Aber Jesus starb eben am Kreuz; er wurde geopfert. Nicht von Gott,
sondern von jenen, die den Fortbestand des Systems, das seine Kreuzigung
befahl, sichern wollten. Was das nun für eine marxistische Revolution
bedeutet?
Vielleicht sollte Eagleton es in seinem nächsten Buch, dem 42., erläutern.
26 Apr 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Marlen Hobrack
## TAGS
Literaturwissenschaft
Revolution
Opfer
Philosophie
Marxismus
Spionage
Philosophie
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