# taz.de -- Europas geschlossene Grenzen: Mehr Reflex als Effekt | |
> Die rein nationale Ausrichtung der Gesundheitssysteme ist das Problem: | |
> die grenzüberschreitende Krise legt die Defizite der Zusammenarbeit bloß. | |
Bild: Dicht: Die Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden | |
Vor einer Woche war ich in [1][Maastricht an der belgischen Grenze], die | |
nicht mehr als einen Kilometer hinter meinem Haus liegt. Ich wollte es mit | |
eigenen Augen sehen: Die Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden ist | |
geschlossen. Ohne einen triftigen Grund kommt niemand durch, was ein | |
einzigartiges Ereignis in der jüngsten Geschichte ist. Eigentlich | |
vergleichbar mit dem Fall der Mauer vor dreißig Jahren. Nur dieses mal | |
anders herum. Dabei waren diese Grenzschließungen nicht unvermeidlich. | |
Sie sind eine Folge der fehlenden Koordinierung der nationalen Maßnahmen | |
innerhalb der Europäischen Union. Und auch der komplett nationalen | |
Ausrichtung der Gesundheitssysteme in Europa. Natürlich hat [2][die | |
belgische Regierung argumentiert], dass die Schließung der Grenze zu den | |
Niederlanden und zu Deutschland eine notwendige Maßnahme zum Schutz der | |
Gesundheit der eigenen Bevölkerung sei. Sie würde dazu beitragen, die | |
Infektionsraten niedrig zu halten. | |
Die nationale Grenze? Mit dem heutigen Wissen hätten wir schon viel früher | |
verhindern sollen, dass Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt in die | |
EU einreisten. Oder die einzelnen Hotspots in der Europäischen Union hätten | |
schneller geschlossen werden müssen, wie es in Norditalien viel zu spät | |
versucht wurde. Aber diese Hotspots hatten sehr wenig mit nationalen | |
Grenzen zu tun. | |
Der Hotspot im deutschen Kreis Heinsberg hatte zwar Folgen für das | |
benachbarte niederländische Sittard auf der anderen Seite der Grenze, aber | |
noch viel mehr für Aachen und das übrige Bundesland Nordrhein-Westfalen. | |
## Grenzen schließen als Ausdruck nationaler Ohnmacht | |
Die Kontrolle von geografischen Hotspots ist natürlich eine viel logischere | |
Maßnahme, als regionale oder nationale Grenzen abzuriegeln. Deshalb ist die | |
Grenzschließung zwischen den Niederlanden und Belgien nicht weniger | |
merkwürdig als zwischen zwei Bundesländern (auch Mecklenburg-Vorpommern hat | |
alle Einreisen ohne triftigen Grund verboten). Dies ist eher ein Ausdruck | |
von Ohnmacht, weil die eigentliche Koordinierung von Maßnahmen fehlt. | |
Als die Geschäfte nämlich in Belgien bereits geschlossen hatten, waren sie | |
in den Niederlanden noch offen. So kamen die Belgier in Scharen nach | |
Maastricht, um einzukaufen. Und als in Belgien bereits viel strengere | |
Maßnahmen in Kraft waren, haben die niederländischen Tagestouristen | |
offenbar so getan, als würde sie das nicht betreffen. | |
War das vorhersehbar? Ja, das war es. Für viele Menschen ist die | |
grenzenlose Euregio, die länderübergreifende europäische Region, heute | |
Teil ihres normalen Alltags. Wenn drastische einseitige Maßnahmen so | |
schnell ergriffen werden, dass die Informationen die Menschen kaum noch | |
erreichen, führt dies zu Problemen. | |
Dabei zeigt das Beispiel Österreichs recht deutlich, wie begrenzt die | |
positiven Effekte der Schließung einer nationalen Grenze sind. Dort hatte | |
die Regierung schon früh die Grenze zu Italien geschlossen, auch zu | |
Südtirol (ebenfalls Teil einer lebendigen Euregio). In den beiden | |
Skigebieten im österreichischen Tirol wurden die Lifte jedoch viel zu spät | |
geschlossen. | |
So war es bekanntlich möglich, von den alpinen Skigebieten in das übrige | |
Österreich oder nach Süddeutschland zu reisen und den Virus mitzunehmen. | |
Ministerpräsident Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen ist einer der | |
wenigen, die bezweifeln, dass Grenzschließungen wirklich helfen. Er hat | |
sich dafür eingesetzt, dass die Grenze zwischen der Bundesrepublik | |
Deutschland und den Niederlanden offen bleibt, oder wenigsten nicht | |
systematisch und flächendeckend kontrolliert wird. | |
## Zu sehr auf den nationalen Rahmen konzentriert | |
Es ist dabei kein Zufall, dass das Bundesland Nordrhein-Westfalen und die | |
Niederlande das Schließen der Grenze gerade noch verhindern konnten, hat | |
doch die Landesregierung in Düsseldorf mit den Nachbarn eine | |
grenzüberschreitende Taskforce eingerichtet. | |
Allerdings werden auch in Grenzregionen die strukturellen Probleme | |
sichtbar. Andere, eigentlich gut integrierte Nachbarn mit | |
grenzüberschreitenden Governance-Systemen, wie die nordischen Länder | |
(Nordic Council), scheinen im Krisenfall wenig Spielraum zu haben. So hat | |
Dänemark beispielsweise aus Sorge um sein eigenes Gesundheitssystem seine | |
Grenze zum benachbarten Schweden geschlossen. | |
Also scheinen Gesundheitssysteme, die bisher in der Europäischen Union | |
national ausgerichtet sind (die EU hat nur unterstützende Kompetenzen), den | |
Anforderungen einer grenzüberschreitenden Krise nicht gerecht zu werden. | |
Und dieser Fehler im System der Europäischen Union hat maßgeblich zu einer | |
„Rette sich wer kann“-Mentalität beigetragen in Sachen medizinisches | |
Material, Testkapazitäten und Intensivbetten. Strukturelle Solidarität mit | |
Italien und Spanien hätte anders aussehen müssen. | |
In der Krise hat die zwischenstaatliche „freiwillige“ Abstimmung nicht | |
überzeugt. Es hilft auch nicht, der europäischen Kommission Vorwürfe zu | |
machen. Es fehlen schlicht die Kompetenzen. Erst spät gibt es gute | |
Nachrichten: Die EU Kommission hat in Absprache mit den meisten | |
Mitgliedstaaten (und Großbritannien) ein gemeinschaftliches | |
Beschaffungsprojekt angestoßen für medizinisches Material. | |
Und auch in Sachen freiwilliger Ad-hoc-Solidarität gab es Positives zu | |
berichten: Italienische Patienten werden in Sachsen behandelt, französische | |
Patienten aus dem Elsass in Baden-Württemberg und aus den Niederlanden | |
beispielsweise auf der Intensivstation von Krankenhäusern in Münster. Dass | |
dies hier und heute besonders herausgestellt und gelobt werden muss, das | |
sagt schon viel über die reichlichen systemischen Defizite in Europa. | |
8 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Martin Unfried | |
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