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# taz.de -- Vor Corona war der Klimawandel DAS Thema: „Erst mal auf Eis geleg…
> Philipp Litz arbeitet als wissenschaftlicher Politikberater und war in
> die Verhandlungen der Kohlekommission involviert. Und er baut Bänke für
> Berlin.
Bild: Philipp Litz auf einer seiner selbst gebauten Bänke auf der Hertabrücke…
taz: Herr Litz, haben Sie heute schon mal das Wort „Kohleausstieg“ gesagt?
Philipp Litz: Ja, natürlich, viele Male. Alleine während eines Telefonats
mit einem australischen Wissenschaftler, bei dem es um Ideen für eine
mögliche Kohlekommission in Australien ging, habe ich mindestens 20 Mal
Kohleausstieg gesagt.
S eit sieben Jahren dreht sich bei Ihnen alles um Kohle. Damals war der
Kohleausstieg in der Öffentlichkeit wenig präsent. Es gab weder das Pariser
Klimaabkommen noch Ende Gelände …
… das ist richtig, mittlerweile wird viel mehr über Klima und Kohle
gesprochen, das finde ich gut. Es ist auch wichtig, dass sich darüber
gestritten wird, wie ein Kohleausstieg funktionieren kann – und wie nicht.
Sie schreiben als Projektmanager des [1][Think Tanks Agora Energiewende]
seit 2014 eine Studie nach der anderen zum Kohleausstieg. Als rechte Hand
der Vorsitzenden der Kohlekommission handelten Sie zähe Kompromisse für
politische Empfehlungen aus. Freut es Sie, dass die Bundesregierung den
Kohleausstieg umsetzen will?
Es ist gut, dass ein Kompromiss verhandelt wurde. Damit ist endlich klar,
dass Deutschland aus der Kohle aussteigt und gleichzeitig keiner der
Beschäftigten im Regen stehen gelassen wird. Auch, dass es in Deutschland
ein politisches System gibt, in dem solche politischen Kompromisse
überhaupt erzielt werden können, finde ich gut. Aber auch wenn der finale
Gesetzentwurf für den Kohleausstieg noch nicht beschlossen ist, steht fest,
dass das, was die Bundesregierung umsetzen will, klimapolitisch nicht
reicht. Damit ist heute schon klar, dass es früher oder später noch
zusätzliche Klimaschutzmaßnahmen geben wird. Die ursprüngliche
Planungssicherheit ist damit dahin. Das ist eine verpasste Chance.
Sie arbeiten in der wissenschaftlichen Politikberatung, sind aber auch in
der Umwelt-NGO-Szene Berlins gut vernetzt. Wie politisch darf Wissenschaft
sein?
Die Frage sollte besser lauten: Wie unwissenschaftlich darf Politik sein?
Ich sehe keinen Widerspruch darin, als Wissenschaftler auf eine Demo zu
gehen. Der Zusammenhang zwischen Kohle und Erderwärmung ist einfach da. Je
länger wir warten, desto dringender müssen die wissenschaftlichen
Erkenntnisse umgesetzt werden. Die Folgen von dem, was gerade passiert,
sind hochgradig politisch. Schließlich geht es beim Klimaschutz um
Verteilungsfragen, und die sind immer politisch. Auf der anderen Seite
basiert allerdings auch jede Wissenschaft auf gewissen Grundannahmen und
Fragestellungen. Genau das machen wir uns bei Agora zu eigen.
Was unterscheidet Agora Energiewende von einem wissenschaftlichen Institut?
Wir unterscheiden uns, indem wir uns aktiv in die politische Diskussion
einmischen. Die meisten Forscher*innen tun das eher nicht oder beschränken
sich darauf, die Vor- und Nachteile verschiedener Optionen aufzuzeigen. Das
ist auch vollkommen okay. In der Politik ist das jedoch manchmal nicht
genug. Wir machen deshalb auf Basis von wissenschaftlichen Studien konkrete
Vorschläge für Gesetze, damit die Energiewende gelingt. Die können dann von
Politiker*innen für ihre Arbeit aufgegriffen werden. Wir erarbeiten
Kompromisse und vermitteln so zwischen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft
und Zivilgesellschaft. Dabei legen wir großen Wert auf Transparenz. Alle
unsere Studien sind auf unserer Homepage für jeden kostenlos einsehbar.
Finanziert wird unsere Arbeit durch Stiftungen und über Drittmittel von
Ministerien. Das sichert uns Unabhängigkeit, die für Vermittler notwendig
ist.
Werden Sie als Vermittler zwischen Wissenschaft und Politik gehört?
Ja, gehört werden wir schon. Bis auf die AfD hören uns alle zu. Aber die
Frage ist, inwieweit das auch umgesetzt wird und dem Klima Priorität
gegenüber anderen politischen Themen eingeräumt wird.
Heute mischt sich die Wissenschaft stärker in die öffentliche Debatte zu
Klima und Kohle ein als noch vor ein paar Jahren. Hätte sie das eher tun
müssen?
Es geht nicht darum, möglichst viel Theater zu machen und möglichst laute
Botschaften zu versenden, sondern auch darum, inwieweit diese durchdringen.
Seit zwei Jahren gibt es viele Proteste – die Klima-Demo letzten Herbst war
mit über einer Million Menschen eine der größten Demonstrationen der
Nachkriegszeit in Deutschland. Kurz danach verabschiedete die
Bundesregierung ein Klimapaket, das seinen Namen nicht verdient. Da zeigt
sich ein Stück weit das Dilemma der Klimapolitik: In puncto Klimaschutz
tickt die Uhr, aber das politische System basiert darauf, dass Kompromisse
ausgehandelt werden. Das ist richtig, braucht aber viel Zeit. Das passt
dann oft nicht zusammen. Der Apparat ist scheinbar nicht in der Lage,
schnell genug adäquate Ergebnisse zu produzieren. Mit Fridays for Future
kam ein neuer Akteur mit neuen Impulsen, das machte Hoffnung. Aber was nun
nach zwei Jahren mit dem Klimapaket rauskommt, ist ernüchternd. Die lauten
Proteste stoßen also auch an ihre Grenzen. Und das macht ratlos. Ich denke,
das geht gerade vielen so, die für den Klimaschutz eintreten. Es herrscht
ein bisschen Katerstimmung.
Wie gehen Sie mit dieser Katerstimmung um? Was machen Sie bei Niederlagen?
Manchmal hoffe ich, dass uns neue Technologien überraschen – Batterien
schneller als gedacht nur noch die Hälfte kosten. Manchmal hoffe ich auch,
dass junge Leute grüne Themen etablieren oder dem Thema insgesamt eine
höhere Priorität eingeräumt wird. Ich habe schon den Glauben, dass durch
politische Prozesse viele kleine Schritte in die richtige Richtung gemacht
werden. Auch wenn das unfassbar zäh ist. Meine Hoffnung schwankt aber. Ich
verstehe auch diejenigen, die nicht an eine Lösung der Klimakrise glauben.
Denn die Rechnung, dass das klappt, ist noch nicht beglichen – sie ist noch
nicht einmal aufgestellt.
Interessieren Sie sich schon immer für Politik?
Nein, Politik war in meiner Familie selten Thema. Ich war nicht der
10-jährige Junge, der sich für den Klimaschutz engagierte. Ich spielte
stattdessen jahrelang mehrmals die Woche Fußball. Mit 17 Jahren fing ich
an, neben der Schule Jazz-Posaune zu studieren. Politik hat mich lange
nicht interessiert. Nach dem Abi wusste ich nicht, was ich machen sollte,
hörte auf, Posaune zu spielen, und ging ein Jahr lang Reisen. Ich hatte
immer Angst, mich in Diskussionen einzubringen, weil ich dachte, ich würde
zu wenig verstehen. Häufig hatte ich das Gefühl, alle anderen würden sich
wahnsinnig gut auskennen. Ich denke, dass ich auch um daran etwas zu
ändern, entschied, Politikwissenschaft zu studieren. Für das Studium zog
ich von Hersbruck, wo ich aufwuchs, eine 12.000-Einwohner-Stadt in der Nähe
von Nürnberg, nach Dresden. Dort wurde ich dann politisch sozialisiert.
Was meinen Sie damit, dass Sie in Dresden politisch sozialisiert wurden?
Es schockierte mich, wie die Stadt Dresden mit seiner Nazi-Vergangenheit
umging. Zu meiner Studienzeit trafen sich dort jedes Jahr bis zu 5.000
Neonazis, um in Fackelzügen durch die Stadt zu ziehen – bevor es Pegida
gab. Die Stadt hat das mehr oder weniger achselzuckend hingenommen.
Spätestens in dem Moment, als die Dresdner Polizei dann anfing, massiv
gegen die Gegendemonstrant*innen vorzugehen, verstand ich, dass ich mich
politisch engagieren muss. Da ich, als weißer deutscher Mann, in
privilegierten Verhältnissen aufgewachsen bin und nie in irgendeiner Art
Diskriminierung ausgesetzt war, hat es relativ lange gedauert, bis ich mich
politisiert habe.
Wie kamen Sie dazu, im Bereich Umweltpolitik zu arbeiten?
Ich rutschte im Studium über Seminare und Praktika in die Umweltpolitik.
Ich hätte genauso gut in der Finanz- oder Sozialpolitik landen können. Ich
wollte die Theorie aus dem Studium auf praktische Probleme anwenden und
nicht einfach forschen – ohne zu schlussfolgern, was sich verändern muss.
Mir ging es darum, zwischen Wissenschaft und Politik und Gesellschaft zu
vermitteln. Ich wollte konkret werden. So bin ich im politischen Berlin
gelandet.
In Ihrer Freizeit bauen Sie mit FreundInnen Sitzbänke, die Sie in Berlin am
Kanal oder auf den Gehwegen aufstellen. Sie nennen sich [2][„Benching
Berlin“].
Gemeinsam mit zwei FreundInnen bauen wir Holzbänke und stellen sie auf
öffentliche Plätzen. Letzten Sommer haben wir rund 15 Bänke gebaut und
verteilt. Ein paar wurden geklaut. Über den Winter sammelten wir den
Großteil ein, damit sie nicht kaputtgehen. In den nächsten Wochen stellen
wir diese Bänke wieder auf und bauen weiter.
Gibt es nicht schon genug Parkbänke in Berlin?
Nein, gibt es nicht. Wir haben uns in der Stadt an absurde Zustände
gewöhnt. Der Erholungsfaktor spielt kaum eine Rolle mehr. Autos, Straßen
und Parkplätze nehmen viel zu viel Platz weg, das ist unfair. Über die
Hälfte der Haushalte in Berlin hat gar kein Auto. Dennoch dominiert der
mobilisierte Individualverkehr den öffentlichen Raum. In anderen Städten
ist es noch schlimmer, in Berlin gibt es immerhin einige grüne Parks. Aber
häufig bleibt nur den Gang ins Café, wenn man sich im öffentlichen Raum
erholen will. Darauf wollen wir hinweisen. Wir wollen ein
nicht-kommerzielles Angebot schaffen.
Das klingt akademisch …
… mag sein, aber genau das ist es eben nicht. Wir wollen nicht akademisch
an die alternative Nutzung des öffentlichen Raumes heranführen, sondern
praktisch neue Orte schaffen, wo man sich gerne aufhält. Den man
ausprobieren und sich einfach hinsetzen und erholen kann. Das haben wir
verlernt. Es ist politisch nicht gewollt. Immer mehr Parkbänke wurden
abgebaut oder ungemütlich gemacht, damit keine Obdachlosen darauf sitzen
oder schlafen. Das ist der politische Aspekt. Zudem geht es für mich auch
einfach darum, mit Freunden etwas Schönes zu bauen. Das macht mir Spaß.
Wer setzt sich auf Ihre Parkbänke?
Das ist das Spannende: So weit ich das beobachte, schaffen wir es, dass wir
uns mit den Bänken nicht nur an eine spezielle Subkultur wenden, sondern an
alle. Wir erreichen eine breite Zielgruppe: Von italienischen Expats, die
sich dort abends treffen, bis hin zu einer herzzerreißenden alten Dame, die
sich auf ihrem täglichen Weg zum Supermarkt auf einer Bank in Neukölln eine
Pause gönnt, um tatsächlich Kraft zu schöpfen. Mittlerweile hat sie sogar
immer einen Pausentee dabei. Das erzählte sie mir letzten Sommer, als ich
sie dort an dieser Bank traf.
Steht irgendwo eine Bank, die Sie am liebsten haben?
Ja, in Neukölln. Auf der Hertabrücke. Von dieser Bank aus hat man die beste
Aussicht über die S-Bahn-Schienen und ist gleichzeitig direkt am
Körner-Park.
[3][Bei Instagram haben Sie mit „Benching Berlin“] ein Video hochgeladen,
das zeigt, wie die Bänke nachgebaut werden können.
Ja, ich will auch noch eine Anleitung hochladen. Allerdings versuchen wir
möglichst viel recyceltes Material und Holz, das wir auf der Straße oder
dem Sperrmüll finden, zu verbauen, deshalb ist es schwierig, das Bänkebauen
zu standardisieren. Mit dem Film haben wir versucht eine Bank zu bauen, die
gut nachgebaut werden kann. Wer Lust hat, kann uns aber auch gerne
schreiben und einfach mitmachen.
Sie wollen Anfang Mai für ein Jahr nach Thailand, um dort Ihre Arbeit zum
Kohleausstieg für Agora Energiewende weiterzuführen. Warum Thailand?
Weltweit werden vor allem in Ländern Südostasiens sowie in China und Indien
neue Kohlekraftwerke geplant. Auf den Philippinen, in Indonesien, Korea,
Thailand und Vietnam entscheidet sich in den nächsten Jahren viel. Wenn die
geplanten Kraftwerke alle gebaut werden, sieht es schlecht aus für den
globalen Klimaschutz. Seit Anfang der 1990er hat sich die globale
Kohleproduktion knapp verdoppelt. Wir arbeiten bereits heute mit
asiatischen Instituten zusammen, die ähnlich wie wir praxisnahe
Politikberatung zum Kohleausstieg und zur Energiewende in den jeweiligen
Ländern machen. Anfang Mai geht mein Flug, ich habe auch schon eine Wohnung
gemietet. Ob ich fliegen kann oder wegen Covid-19 die Reise verschieben
muss, weiß ich noch nicht.
Was machen Sie, wenn Sie die Reise verschieben müssen?
Ich denke, ich fahre dann erst im Herbst dorthin. Die Kooperation mit
unseren Partnern wird trotzdem starten, wir setzen nur eben mehr auf
Videokonferenzen und dergleichen. Das machen wir jetzt auch schon, aber das
ist natürlich nicht das Gleiche, wie vor Ort mit den Menschen gemeinsame
Studien voranzutreiben. Dabei geht es nicht darum, das Modell des deutschen
Kohleausstiegs zu verkaufen. Jedes Land hat eigene Herausforderungen. Es
gibt nicht das eine Wundermittel. Aber bestimmte Fragen wiederholen sich
weltweit bei jedem Kohleausstieg.
Welche denn?
Wie viel erneuerbare Energien werden gebraucht? Wie können Beschäftigte
aufgefangen und eine Transformation sozial gestaltet werden? Länder, die
viel Kohle exportieren und Bergbau betreiben, stehen bei diesen Fragen aber
natürlich vor viel größeren Problemen als Deutschland – das sind andere
Dimensionen. Dort ist die Kohleindustrie häufig so groß wie die
Autoindustrie hierzulande.
Ist die Politikberatung zum Kohleausstieg fertig? Lassen Sie uns hier jetzt
mit den Politiker*innen allein?
(lacht) Ja, so ist es. Meine Arbeit zum Thema Kohleausstieg in Deutschland
ist erledigt. Wir haben unsere Vorschläge, wie ein Kohleausstieg
funktionieren kann, gemacht und sobald das Kohleausstiegsgesetz vom
Bundestag beschlossen wird, ist das Thema in Deutschland erst mal auf Eis
gelegt.
29 Mar 2020
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## AUTOREN
Sophie Schmalz
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