# taz.de -- Jenseits der Normalität: Alles ist brutal fragil | |
> Je schwerer es wird, die Corona-Lage zu beurteilen, desto größer ist der | |
> Bedarf an Sicherheit. Wie kann man mündig darüber sprechen? Ein Versuch. | |
Bild: Wenn nichts mehr ist, wie es war: Unsicherheit in allen Lebenslagen | |
Wenn die Normalität so extrem unterbrochen wird, ist man auf die eigene | |
Urteilskraft zurückgeworfen. Das könnte ein Grund sein, warum die | |
Autoritätsanhänger der letzten Tage auch in den classiclinken | |
Neubürgerwohnungen sitzen. Sie trauen sich in dieser Lage selbst nicht | |
mehr. Aber schon gar nicht trauen sie den anderen. Ihr Vollidiot*innen, | |
rufen sie auf die Straße runter, staythefuckhome. Dann fordern sie auf | |
Twitter „Ausgangssperren“. | |
Je schwieriger die Beurteilung der Lage, desto größer wird der Bedarf an | |
sicherheitsstiftenden Regeln. Und Vorurteilen. Und Klopapier. Wobei ich das | |
alles nicht verhöhnen will: Die Coronaviren, weil hochansteckend und | |
potenziell tödlich, können einem Angst machen, und jeder Tag kann ein | |
fiebriger Stream of Consciousness in der Achterbahn sein: In der einen | |
Sekunde denkt man, Gottchen, das wird schon. In der nächsten erwägt man, in | |
die katholische Kirche einzutreten. | |
Ich verstehe sehr wohl, dass vertrauensbildende Kommunikation wichtig ist, | |
folge aber dafür nicht der Giovanni-di-Lorenzo-[1][Leitartikelkultur] oder | |
Camus, die Coronaviren-Krise als kathartische Erfahrung zu beschwören, die | |
am Ende unsere „Menschlichkeit“ kollektiv auf eine höhere Stufe heben kann. | |
Das wäre nicht mündig, denn dieser Hoffnung fehlt es einfach an Evidenz. | |
Historisch gesehen ist es so, dass bei steigender Eskalation trotz | |
autoritärer Politik irgendwann geplündert und gemordet wird. Je größer die | |
Krise, desto geringer wird die Solidarität. Wenn meine Tochter oder meine | |
Mutter ein Intensivstationsbett braucht, ist mir der Rest doch scheißegal. | |
Das ist menschlich. | |
## Ein globale Krise kann nur die Politik überwinden | |
Es ist großartig und wichtig, wenn Leute jetzt für andere einkaufen. Und | |
für Einzelne kann das überlebensnotwendig gewesen sein, ohne dass sie es je | |
wissen werden. Das ist die individuelle Ebene. Aber die globale Krise kann | |
nicht mit „Menschlichkeit“ überwunden werden, sondern nur mit Politik. Mit | |
koordinierter Politik. Die Politik aber ist nicht menschlich, sondern zielt | |
auf das Allgemeine. Im Idealfall wird möglichst vielen geholfen. Aber nicht | |
allen. | |
Es kann also sein, dass man selbst am Ende nicht dazugehört. Weil man Pech | |
hat. Oder nicht genügend Lobby. Oder keine Priorität. Die Frage des | |
Überlebens stellt sich auch für Arbeitsplätze, die kleinen und mittleren | |
Selbstständigen und für große Unternehmen. Je besser die Politik es | |
hinkriegt, desto weniger Opfer wird es geben, das ist die Abhängigkeit | |
dieser Tage. | |
Das Problem ist, dass es meist kein Entweder-Oder gibt: Die bestmögliche | |
politische Antwort ist eine Frage der Balance. Für die Gewährleistung des | |
Notwendigen, zwischen heute und morgen, dem Allgemeinen und dem | |
Individuellen, etwa bei der Länge und der Durchsetzungsart einer | |
Ausgangssperre. Balanciert muss das nicht autoritäre, sondern soziale | |
Politik sein. Aber Überwachung Infizierter über Mobilfunkdaten geht gar | |
nicht. | |
Was wir im Gegensatz zur Klimakrise jetzt spüren und auf umfassendere Art | |
als nach 9/11 und 2015: Wie brutal fragil alles ist. Alles. Auch | |
Eskalationen der globalen Flüchtlingslage sind letztlich nur | |
Sichtbarwerdungen von politisch ignorierten Dauerkrisen. Nun wird Weiteres | |
sichtbar, was im Normalbetrieb ignoriert wird: Der Status quo im | |
Gesundheitswesen, die Abhängigkeiten in einer globalisierten Gesellschaft. | |
Von China. Aber vor allem von Europa. Mit Grenzschließungen kann man weder | |
ein Virus bremsen noch die Erderhitzung. Ohne ein starkes Europa kein | |
starkes Deutschland. Und umgekehrt. | |
Die Frage wird sein, ob eine heterogene Mehrheit nach überstandener Krise | |
die Kraft hat, die nächste Bundesregierung damit zu beauftragen, die EU | |
resilient für die Zukunft zu machen. | |
Das muss das Ziel der Mündigen sein. | |
21 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zeit.de/2020/13/coronavirus-gesellschaft-ausnahmezustand-mensch… | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Kolumne Die eine Frage | |
Krise der Demokratie | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Krise der Demokratie | |
Kolumne Die eine Frage | |
Kolumne Die eine Frage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Koalitionen der nächsten Bundestagswahl: Sorry, aber das ist keine gute Idee | |
Wer Grün-rot-rot will, will auch Union, FDP und AfD in der Opposition? | |
Gerade jetzt brauchen wir eher eine starke liberaldemokratische Mitte. | |
Die orientierungslose CDU: Zeitgeist vs. Gegenzeitgeist | |
Die Grünen sind nicht mehr die Grünen, das ist der Grund für ihren Erfolg. | |
Und die CDU? Sie weiß nicht, wer sie sein will. Das ist ihr Problem. | |
Demokratie in Deutschland: Eine Erfolgsgeschichte | |
Nach den Thüringer Wahlen gibt es eine solche Endzeit- und Kampfrhetorik, | |
dass man sich fragen könnte: Steht der Faschismus vor der Tür? |