# taz.de -- Die orientierungslose CDU: Zeitgeist vs. Gegenzeitgeist | |
> Die Grünen sind nicht mehr die Grünen, das ist der Grund für ihren | |
> Erfolg. Und die CDU? Sie weiß nicht, wer sie sein will. Das ist ihr | |
> Problem. | |
Bild: Die CDU am Boden – und jetzt: Wohin des Weges? | |
In der Villa Reitzenstein hoch über Stuttgart sagt der | |
baden-württembergische Ministerpräsident bei einer [1][Abendveranstaltung | |
zum Thema „Haltung“] relativ unvermittelt den Satz: „Haltung zeigen – u… | |
unter 5 Prozent rutschen: Das bringt erst mal gar nichts.“ | |
Der Kontext ist sehr wahrscheinlich Winfried Kretschmanns Erfahrung mit | |
seiner Partei und ihrer traditionellen grünen Kultur, politische Ohnmacht | |
als Tugend zu interpretieren. Der Ministerpräsident hadert gerne mal damit, | |
dass die Grünen ihm ja nicht folgten. Aber vielleicht unterschätzt er das | |
Ausmaß der Kretschmannisierung auch. | |
Am Vorabend der Bürgerschaftswahl in Hamburg sind die Grünen in Deutschland | |
nicht mehr der Gegenzeitgeist, als der sie vor 40 Jahren antraten. Diesen | |
Gegenzeitgeist vertritt heute die AfD. | |
Die Grünen sind die führenden Vertreter des liberalen Zeitgeistes der | |
Bundesrepublik. | |
Seine Vertreter und Wähler umfassen etwa ein Viertel des Elektorats und | |
sind bereit für moderate Veränderung, etwa eine Intensivierung europäischer | |
Ordnungspolitik in Sachen Klima, Wirtschaft, Soziales, Einwanderung und | |
Verteidigung. Dagegen steht derzeit noch, das kann man in Hamburg sehen, | |
eine Mehrheit, die Gründe hat, die Zukunft zu verschieben. Auch wenn sie | |
etwa menschenfreundlichere Städte bringen würde. Lieber nicht. | |
Die Bundesvorsitzenden, diverse grüne Regierungsverantwortliche und ganz | |
sicher die [2][Hamburger Spitzenkandidatin Katharina Fegebank] haben | |
„Kretschmann kapiert“, wie Reinhard Bütikofer zu sagen pflegt, Sie sind | |
also bereit, Politik am Alltag der Leute zu orientieren. Auch an dem | |
anderer Leute als klassischer Grüner. Die sind mittlerweile sogar | |
Minderheit in der Partei, die breite Teile der Mittelschicht erreicht, in | |
Großstädten sowieso. | |
Die Grünen sind nicht mehr die Grünen – das ist die Grundlage ihres | |
Erfolges. Das muss man verstehen, und das kann man auch auf die andere | |
Volkspartei übertragen. Das Problem der CDU ist nicht, dass sie nicht mehr | |
die CDU von früher ist. Sondern, dass sie keinen zeitgemäßen politischen | |
Ausdruck dafür findet, was „CDU“ ist. | |
Aber je stärker Kretschmanns wirtschaftsökologisch angehauchtes „Maß und | |
Mitte“ und sein mehrheitsfähiger ökosozialliberaler Konservatismus die | |
Grünen definiert, desto schwieriger wird es für die CDU, die ja de facto | |
nach dem Ende von Rot-Grün und dem Niedergang der SPD die führende Partei | |
des liberalen Zeitgeistes war. | |
Gegen diesen Zeitgeist rebellieren manche Ex-Wähler von CDU und SPD, weil | |
sie sich als seine Verlierer sehen. Die einen haben ihre „bürgerlichen | |
Werte“ verloren, was offenbar ethnische Superiorität, Vergewaltigungsrecht | |
in der Ehe und dergleichen meint, die anderen sind angeblich von „Eliten“ | |
und SPD betrogen worden. | |
Diesen Gegenzeitgeist haben die AfD und ihre Strategen gebündelt und | |
versuchen ihn jetzt auszubauen. Einwanderung ist als emotionales Catchthema | |
essenziell, egal ob es Flüchtlinge gibt oder – wie meist im Osten – eben | |
nicht. | |
Zwischen Grünen und AfD, zwischen Mehrheits- und Minderheitszeitgeist hängt | |
jetzt die nach beiden Seiten bröckelnde CDU. Sie weiß nicht mehr, ob sie | |
den bundesrepublikanischen Zeitgeist anführen soll, wie 50 erfolgreiche | |
Jahre lang. Oder bekämpfen. | |
Was nun die Wahl in Hamburg angeht, so können wir uns bei einem Sieg des | |
Amtsinhabers auf die üblichen Leitartikel einstellen, die die Bedeutung für | |
ein Doch-noch-Comeback der SPD analysieren wollen. Kann man vergessen. Was | |
bleibt, ist, dass die neuen Parteivorsitzenden der Herzen Auftrittsverbot | |
im Wahlkampf hatten. Mehr muss man nicht wissen. | |
23 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/Gesellschaft-Kultur-in-der-V… | |
[2] /Katharina-Fegebank/!t5013248/ | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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