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# taz.de -- Bilder von Oslos Wandel: Poetische Abstraktion
> Oliver Godow sucht in seinem Bildband „Oslo 2014–19“ das Moderne und
> Schöne stets in Bildern des Alltäglichen und Vergessenen.
Bild: Oliver Gudow, „Aker brygge“
„Die Beziehung zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir wissen“,
schreibt John Berger in „Sehen: Das Bild der Welt in der Bilderwelt“, „ist
nie endgültig entschieden.“ In Oliver Godows Oslo-Bildern wirkt die
Spannbreite zwischen Gesehenem und Gewusstem nicht nur uneindeutig, sondern
nahezu künstlich auseinandergezerrt.
Die Stärke des Fotobands „Oslo: 2014–19“ liegt eben nicht in der
realitätsgetreuen Darstellung einer Stadt, sondern in der poetischen
Abstraktion darin versammelter Szenen und Objekte: in spiegelartigen
Reflektionen, im Ineinandergreifen geometrischer Formen und Licht, in der
Überlagerung von Materialschichten wie Farbe, Asphalt, Pappe und Glas. Und
in der Neuaufwertung von Weggeschmissenem, Kaputtem und Übersehenem –
Graffiti, Baumüll oder etwa ein Blatt aufgeriebene Autolackfolie.
Wer von diesen Aufnahmen ein zusammenhängendes Bild Oslos erwartet, wird
vermutlich enttäuscht. Obwohl Godow rein geografisch betrachtet viele
verschiedene Ecken der Stadt beleuchtet, sind seine Bildwelten eher
abstrakte Zeugnisse ihrer Transformation. Die Vorgeschichte: Godow lebte
Anfang der nuller Jahre in der Stadt – zwischen 2005 und 2006.
## Bauboom in Oslo
Als er knapp sieben Jahre später zurückkehrte, um ihren umfassenden urbanen
Wandel zu dokumentieren, erkannte er sie nach eigener Aussage kaum wieder.
Die zehner Jahre hatten in Oslo einen Bauboom losgetreten, der
gewissermaßen bis heute anhält. Über fünf Jahre, zwischen 2014 und 2019,
dokumentierte Godow diesen Prozess in sonderbar schillernden
Momentaufnahmen.
Darin hält er Rückstände des Alten im Neuen genauso fest wie Szenen des
Übergangs und Verschwindens. Das Bild „Bernt Ankers gate“ (2016) etwa zeigt
ein aus einer Decke herausgebrochenes und lediglich an einem dünnen Kabel
in den Raum herabhängendes, bläulich schimmerndes Stück Metall. Das Objekt,
vermutlich Überbleibsel einer alten Baustruktur, deutet an seinem Ende,
einem Uhrzeiger gleichend, eine kreisförmige Spur an, wie den Wandel der
Zeit.
In einem anderen Bild, „Aker brygge“ (2015), ist ein vergitterter
Fenstervorschlag zu sehen. Das Fenster ist von innen abgedichtet, die Wand
drumherum frisch zementiert. Ein durchsichtiges Stück Folie, das mit
Neon-Tape an dem Gitter angebracht wurde, hängt seitlich herab. Es erinnert
in der zerknitterten Form an den Faltenwurf eines Kleides.
## Vermenschlichte Gegenstände
Das Buch ist durchzogen von derart vermenschlichten Gegenständen. Sie sind
Ausdruck der stetigen Verwandlung dieser Stadt, aber auch Beispiele, anhand
derer Godow Momente von Schönheit im Verfallenden und im vermeintlich
Unschönen sichtbar macht. „Der Schock war total.“ So beschrieb der
norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård 2015 in seinem Essay „Das
Unerklärliche“ die Stimmung in Norwegen nach dem Attentat von 2011 durch
den Rechtsterroristen Andreas Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya.
Godows Bilder beziehen sich zwar nicht direkt auf diesen Schock. Sie zeugen
aber doch von einer Art innerer Zersplitterung und von der intensiven
Sehnsucht einer Gesellschaft nach Normalität und Neuanfang. Das Bild
„Akerselva“ (2015), benannt nach einem Fluss, der durch Oslo
hindurchfließt, zeigt zerbrochene Holzsplitter, die statisch, wie
einasphaltiert, auf dem Boden verteilt liegen. Sie lesen sich wie
Sinnbilder für den Bruch, den das Attentat darstellt, sowie für den
Schmerz, den es hinterließ.
Godows Close-ups abgerissener Plakate, greller Wände und glitzernder
Fassaden erinnern an mehreren Stellen – das bemerkt auch Karen Irvine, die
stellvertretende Direktorin am Museum für zeitgenössische Fotografie am
Columbia College, im Vorwort zu „Oslo: 2014–19“ – an die Arbeiten von
Fotografen wie Aaron Siskind und Harry Callahan. Die beiden Fotografen,
schreibt Irvine, schwelgten ihrerseits in der Fähigkeit der Fotografie, die
Welt ins Flächige und Abstrahierte zu verwandeln.
## Nur bei genauerem Hinsehen als Foto zu erkennen
Tatsächlich ist in Godows Bildern der Unterschied zwischen den Medien – wie
dem der Fotografie und dem der Malerei – oft wie aufgelöst: Manche seiner
Bilder sind überhaupt nur bei genauerem Hinsehen als Fotos zu erkennen:
etwa „Dronningensgate“ (2018), das linienförmige Überreste weißen Papiers
auf blauem Untergrund zeigt, oder „Valkyriegate“ (2018), wo unter weißen
Farbschichten und Tesafilm palimpsestartige Reste von Buchstaben sichtbar
werden.
Eines der eindrücklichsten Fotos in „Oslo: 2014–19“ ist „Bjørvika“ …
benannt nach dem hippen kulturellen Zentrum Oslos, zeigt nicht etwa, wie
man erwarten könnte, die glamouröse Hochhaussiedlung „Barcode Project“, d…
hier vor wenigen Jahren fertiggestellt wurde.
Stattdessen fotografiert Godow eine profan wirkende und menschenleere
Tramhaltestelle. Auf dem Bild scheint die Sonne durch farbiges Acrylglas
und taucht die Szenerie so in futuristisch-leuchtendes Orange. Dahinter
ist, etwas verborgen, eine Absperrung erkennbar – das Relikt einer
Baustelle? Ein neues Bauprojekt?
Auf den Sitzen der Haltestelle klafft ein Graffiti-Tag, darunter liegen
Zigarettenstummel und Plastikmüll. Es sind diese Kontraste, die Godows
Arbeiten inspirieren und ihren Charme ausmachen. Seine Kamera sucht das
Moderne und Schöne stets in Bildern des Alltäglichen und Vergessenen.
17 Mar 2020
## AUTOREN
Hanno Hauenstein
## TAGS
zeitgenössische Fotografie
Oslo
Stadtentwicklung
Fotografie
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Fotografie
zeitgenössische Fotografie
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