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# taz.de -- Bundesweite Aktionswoche: Berlins vergessene Kinder
> Bei der Suchtprävention liegt der Fokus auf Erwachsenen, dabei brauchen
> auch Kinder suchtkranker Familien Hilfe.
Bild: „Viele Kinder sind Co-Abhängig“ – sie brauchen Hilfe
BERLIN taz | Jedes sechste Kind in Deutschland lebt in einer Familie mit
suchtkranken Eltern. In Berlin sind rund 90.000 Kinder betroffen, das
entspricht etwa jedem siebten Kind in der Hauptstadt. Das Suchtrisiko ist
bei ihnen sechsfach höher als bei anderen Kindern. Außerdem neigen sie
vermehrt zu psychischen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen. Nach
Ansicht von Sozialverbänden gibt es für Heranwachsende, die bei oftmals
alkohol- und drogenkranken Eltern leben, zu wenig Hilfsangebote – aber auch
zu wenig Aufmerksamkeit.
„Sie sind die vergessenen Kinder“, kritisierte Henning Mielke, Vertreter
von [1][Nacoa Deutschland], zum Auftakt der elften bundesweiten
Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien. Die Kinder seien oft sehr
unauffällig, „stille Helden“, die den Alltag meistern und für ihre eigenen
Eltern nicht selten die Verantwortung übernehmen, auch um sie zu schützen.
Initiiert wird die Aktionswoche vom Berliner Verein Nacoa (National
Association for Children of Addicts), der die Interessen von Kindern aus
Suchtfamilien vertritt, und dem in Hamburg ansässigen Verein Such(t)- und
Wendepunkte. Bundesweit sind bis Samstag 120 Veranstaltungen in mehr als 60
Städten geplant.
Am Montagmorgen stellen VertreterInnen der Aktionswoche vier neue Projekte
für das Land Berlin vor, die vom Senat mit einer halben Million Euro zwei
Jahre unterstützt werden sollen. Der Bundestag hatte sich 2017 dem Thema
angenommen, eine extra eingerichtete Arbeitsgruppe sollte sich Lösungen
finden, zur Hilfe von Kindern mit psychisch- und suchterkrankten Eltern.
## 500.000 Euro reichen nicht
Der Abschlussbericht liegt nun vor, aber die Finanzierung der Projekte sei
immer noch nicht ausreichend geklärt, kritisierten die VertreterInnen. „Der
Bericht ist ein Minimalkompromiss“, so Mielke. Er appellierte an den
Bundestag, sich intensiver mit Finanzierungsfragen zu beschäftigen, um so
langfristig Angebote zu unterstützen.
Anfang des Monats verkündete Familienministerin Franziska Giffey (SPD) das
Thema sei Teil ihrer Agenda. Sie plane, dass Kindern auch ohne Antrag beim
Jugendamt geholfen werden könne – mit der Einführung eines Rechtsanspruchs
auf Alltagsunterstützung. Eltern, die etwa eine Kinderbetreuung oder
Haushaltshilfe bräuchten, dürften sich statt ans Jugendamt auch an eine
Beratungsstelle oder ein Familienzentrum wenden.
Giffeys Unterstützung wird von den VertreterInnen der Aktionswoche zwar
begrüßt, aber damit sich die Lage von Betroffenen wirklich verbessere,
müssten Taten folgen, so Mielke. Es reiche nicht aus, den Kindern einen
elternunabhängigen Anspruch auf Beratung einzuräumen.
Denn: Ohne richtige Unterstützungsangebote nütze das nicht viel. „Die
Kinder brauchen dringend eine verlässliche Hilfe, denn sie tragen selbst
ein hohes Risiko suchtkrank zu werden“, sagte Barbara John, Vorsitzende des
Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin. „Viele Kinder sind Co-Abhängig“,
warnt John. „Wie lange kann ein Kind das aushalten ohne richtige Hilfe?“
Bundesweit gibt es nur etwa 200 spezialisierte Angebote – für drei
Millionen betroffene Kinder sei das zu wenig. Auch mit den geplanten
500.000 Euro Unterstützung aus dem Senat seien viele Projekte
unterfinanziert.
Die vier neu geplanten Projekte sind unterschiedlich ausgerichtet. Nacoa
plant beispielsweise den „Fluffi-Klub“, der die psychische Gesundheit von
Kindern im Vorschulalter verbessern soll. Fluffi ist eine Handpuppe, die –
ohne dass die Wörter „Drogen“ oder „Sucht“ fallen –, Kindern
Problemgeschichten erzählen soll, mit denen sie sich identifizieren können.
Die Puppe soll den Kindern spielerisch Lösungen zeigen für den Umgang mit
Wut, Trauer oder Überforderung – und sie ermutigen, Selbstfürsorge zu
entwickeln sowie jederzeit ihre ErzieherInnen anzusprechen bei Problemen.
Diese sollen im Rahmen von Workshops sensibilisiert werden, um auch bei
Suchtproblemen Unterstützung zu vermitteln.
## „Nicht Schuld der Kinder“
Nina Pritzens, Geschäftsführerin der Vista Drogen- und Suchtberatung,
stellte das Projekt einer mobilen Familienberatung vor. Scham und
Fehleinschätzen würden suchtkranke Eltern oft daran hindern, beispielsweise
den Gang zum Jugendamt anzutreten, um sich Hilfe zu holen. Auch weil sie
Angst haben, die Kinder können ihnen weggenommen werden.
Die mobile Beratung soll da ansetzen, Hilfepläne erstellen und weitere
Suchthilfeangeboten vermitteln, wie eine Therapie, Entzug oder
psychosoziale Betreuung. „Eltern lernen dort, ihre Erkrankung, die kein
Tabuthema sein sollte, den Kindern erziehungsgerecht mitzuteilen“, sagte
Pritzens. Sucht müsste entstigmatisiert werden. „Es ist ganz wichtig, dass
die betroffenen Kinder erleben, dass es nicht ihre Schuld ist, wenn die
Eltern suchtkrank sind.“ Das gleiche Projekt wird vom Notdienst für
Suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin durchgeführt, die beiden
Vereine teilen sich nur auf unterschiedliche Bezirke auf.
Das vierte Angebot kommt von der Diakonie Stadtmitte und ist ein
Patenschaftsprojekt „Vergiss mich nicht“, bei dem Kinder eine stabile
Beziehung zu einem Erwachsenen außerhalb der Familie aufbauen sollen, um
ein Vorbild zu haben und Schutz zu bekommen, falls ihr Wohl in Gefahr sei.
10 Feb 2020
## LINKS
[1] https://nacoa.de/
## AUTOREN
Laura Binder
## TAGS
Drogenhilfe
Sucht
Prävention
Abhängigkeit
Awo
Mutterschaft
Drogenpolitik
Drogenhilfe
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