# taz.de -- Ausstellung Timm Ulrichs in Berlin: Vom Weltall aus gesehen | |
> In Berlin wurde Timm Ulrichs mit dem Käthe-Kollwitz-Preis ausgezeichnet. | |
> Seine Ausstellung in der Akademie der Künste zeugt von Witz. | |
Bild: Timm Ulrichs „THE END“, Augenlidtätowierung 1970 | |
Erfolg in der Kunstwelt scheint oft davon abzuhängen, dass man eine einmal | |
entwickelte Idee hartnäckig beibehält, höchstens variiert und in Maßen | |
weiterentwickelt. | |
Und dann ist da dieser Timm Ulrichs, der offenbar jeden Tag eine neue Idee | |
hat, diese zügig umsetzt und daraus ein gigantisches Oeuvre geschaffen hat, | |
das einen jedes Mal aufs Neue überrascht, wenn man sich damit beschäftigt. | |
Der Berliner Künstler Thomas Kapielski warnte schon vor mehr als zehn | |
Jahren: „Wenn man meint, eine gute Idee zu haben, ist es ratsam, vorher | |
auszukundschaften, ob es nicht längst schon seine war.“ | |
Ulrichs’ Werk wuchert unüberschaubar in alle Richtungen und lässt sich | |
weder von Genres noch Stilbegriffen eingrenzen. Seine Werke können | |
Zeichnungen sein oder Land-Art, Bildhauerei oder Performance, Konzeptkunst | |
oder Konkrete Poesie. | |
Das scheint den Kunstbetrieb zu überfordern. Timm Ulrichs, der in diesem | |
Jahr 80 wird, ist nie so bekannt geworden wie gleichaltrige Künstler, die | |
wie er in den 60er Jahren ihre Karrieren begonnen haben. Das scheint ihn zu | |
wurmen, bei der Eröffnung [1][seiner aktuellen Ausstellung in der Akademie | |
der Künste] bezeichnete er sich selbst als künstlerischen „Bodensatz“. Der | |
Durchbruch in die A-Liga der deutschen Gegenwartskunst war ihm in der Tat | |
verwehrt. Aber das ist halt der Preis, wenn man sich einer | |
identifizierbaren Künstlerhandschrift verweigert. | |
## Kosmische Dimension eines schrägen Gedankens | |
Aber wer Timm Ulrichs kennen sollte, kennt ihn auch. Obwohl er als Künstler | |
keinerlei formale Ausbildung hatte, war er von 1972 bis 2005 Professor an | |
der Kunstakademie Münster. Jetzt hat er auch noch in Berlin den | |
Käthe-Kollwitz-Preis 2020 erhalten, weswegen ihn die Akademie der Künste | |
mit einer kleinen Ausstellung ehrt für ein Werk, bei dem selbst ein | |
schräger Gedanke plötzlich kosmische Dimensionen annehmen kann – wie bei | |
dem Blechschild mit der Aufschrift „Globus Maßstab 1:1“ von 1968, | |
anzubringen an einem beliebigem Objekt auf dem erwähnten Globus. | |
Mit ähnlich schlichten Mitteln erreicht Timm Ulrichs in einer neuen Arbeit | |
die „Aufhebung der Erdrotation“: zehn Kaskadenblitze, die ihre Lichter | |
binnen 0,36 Sekunden mit Erdrotationsgeschwindigkeit abschießen. „Vom | |
Weltall aus gesehen“, sagt Ulrichs, „steht der Lichtpunkt still.“ So wirk… | |
viele Arbeiten von Timm Ulrichs wie aus dem Ärmel geschüttelt, und erst auf | |
den zweiten Blick wird eine Ebene hinter dem vordergründigen Knalleffekt | |
deutlich. | |
Auch wenn sich der Künstler selbst als Kunstwerk ausstellte oder sich 1975 | |
mit schwarzer Sonnenbrille, Blindenbinde und -stock sowie dem Schild „Ich | |
kann keine Kunst mehr sehen“ durch die Art Cologne führen ließ (zwei seiner | |
bekanntesten Werke), waren das einerseits aufmerksamkeitsstarke Aktionen. | |
Andererseits aber eben auch Fortsetzungen von kunsthistorischen | |
Porträttraditionen im Zeitalter von Performance Art beziehungsweise eine | |
Kampfansage an den kommerziell orientierten Kunstbetrieb, mit dem der | |
Künstler schon zu dieser Zeit auf Kriegsfuß stand. | |
## Konzentration auf Textarbeiten | |
Die Ausstellung in Berlin lässt von alldem wenig erahnen. Man hat sich auf | |
die Textarbeiten von Timm Ulrichs konzentriert. Wenn die nur aus einem Satz | |
wie „Am Anfang war das Wort Am“ besteht oder auf einem Lichtband | |
ununterbrochen der Satz „eine Tautologie ist eine Tautologie ist eine …“ | |
etc. vorbeizieht, kann Ulrichs schnell mal wie ein Kalauerkönig wirken. | |
Aber wenn er bei Gertrude Steins berühmter Sentenz „Eine Rose ist eine Rose | |
ist eine Rose“ das Wort „Rose“ einmal durch eine echte, einmal durch eine | |
Plastikblume ersetzt, ist man ganz schnell bei Grundproblemen der Kunst und | |
der ästhetischen Repräsentation. | |
Eine Arbeit von 1963, bei der Ulrichs das Wort „Permutation“ in allen | |
möglichen Varianten von einem Computer durchpermutieren ließ, zeigt, dass | |
ihm zu jedem Medium etwas einfiel – auch zur Schreibmaschine, von der vier | |
zertippte Farbbänder unter dem Titel „Timm Ulrichs: Das literarische | |
Gesamtwerk“ zu sehen sind. | |
Nicht fehlen darf „The End“, für das sich Ulrichs diese Worte auf das | |
Augenlid tätowieren ließ. Wenn er irgendwann für immer die Augen schließt, | |
hat sein Leben einen Abspann wie ein alter Hollywood-Film. Das alles ist | |
schön zu sehen, aber wer eigens für die Ausstellung zur Akademie der Künste | |
gekommen ist, könnte sie etwas unbefriedigt verlassen. Es gäbe so viel mehr | |
zu zeigen, und Platz wäre gewesen. Die beiden großen Hallen der Akademie | |
stehen leer, was dem Besuch etwas von einer Visite in einem verwunschenen | |
Haus gibt. | |
## Hundert Tage Arbeit | |
Eher zum Geist von Timm Ulrichs’ Kunst dürfte die Ausstellung passen, die | |
das Haus am Lützowplatz in Berlin anlässlich dessen 80. Geburtstages im | |
März ausrichtet. Am ersten Tag ist der Ausstellungsraum komplett leer, der | |
täglich mit einem neuen Kunstwerk Ulrichs’ bestückt wird. Nach hundert | |
Tagen sind hundert Exponate da, von hundert Autorinnen und Autoren | |
kommentiert. Komplett ist die Ausstellung nur am letzten Tag, bei der | |
Finissage, bei der auch der Katalog erscheint. | |
Timm Ulrichs’ Heimatstadt Hannover lässt den 80. Geburtstag des Künstlers | |
ohne Ausstellung verstreichen, nachdem [2][Sprengel Museum und Kunstverein] | |
ihn vor zehn Jahren zum 70. Geburtstag ausführlich geehrt haben. So bekommt | |
die Hauptstadt jetzt die invertierte Geburtstagspräsentation, die Ulrichs’ | |
aberwitzigem Werk entspricht. | |
30 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.adk.de/de/programm/index.htm?we_objectID=60514 | |
[2] /Archiv-Suche/!5131666&s=Timm+Ulrichs/ | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
## TAGS | |
Bildende Kunst | |
zeitgenössische Kunst | |
Performance | |
Akademie der Künste Berlin | |
Kunst | |
Kunst | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
30 Jahre Kunstgalerie Nagel Draxler: Ein kleines Blatt mit einem Strich | |
Rückblick auf bewegte Zeiten: Die Galerie Nagel Draxler begann einst in | |
Köln – jetzt feiert sie in Berlin und München ihr 30-jähriges Bestehen. | |
Herbstausstellung in Hannover: Die Heilige Anna in Alditüten | |
Fingierte Künstlerbiografien, Annenkult und Konzeptionelles: Der | |
Kunstverein Hannover zeigt in seiner Herbstausstellung die Vielfalt der | |
Kunstszene in Niedersachsen und Bremen | |
Künstler: Der Karl Valentin von Hannover | |
Timm Ulrichs ist in der Landeshauptstadt hängen geblieben. Sich selbst | |
sieht er als sein erstes Kunstwerk - er hat sich sogar patentieren lassen. | |
Jetzt widmen ihm Kunstverein und Sprengel-Museum eine Doppelausstellung. |