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# taz.de -- Die Wahrheit: Aaba Aaba und der Kitzelnde
> Die Poesie der Namen (II): Ohne Pseudonyme wäre die Welt noch ärmer und
> um einiges weniger schön. Dafür lassen sich einige Beispiele finden.
Bild: Nobelpreis für ein Pseudonym: Robert Allen Zimmerman
„Nenne mir deinen Namen, und ich weiß nicht, wie du heißt!“ Früher galt …
vor allem für Autoren und Schauspieler, und nicht immer hatten sie bei der
Wahl ihres Künstlernamens ein glückliches Händchen. Tucholsky machte sich
1928 darüber lustig: „Pseudonyme sind da, daß man vor Neid erblassen
könnte. Neckische: ‚Hidigeigei‘ und ‚Latschenbock‘ und ‚Kiki‘ und
‚Joachim Friedenthal‘ … nein, das ist wohl kein Pseudonym.“
Heute kann sich jeder einen Alias zulegen. Die taz-Leser, die sich im
Internet zu Wort melden, tun das als „Frau Kirschgrün“, „Lesti“ oder
„Schnurzelpuh“, spielen die tantenhafte „Isolde“ oder den kumpelhaften
„Sachmah“, geben sich als „mowgli“ oder „Machiavelli“ aus, es äuß…
„Pommesrotgrün“, „Leser77“ und „Tom Farmer“ und „Maria Burger“…
werden wohl, anders als „Joachim Friedenthal“, nicht wirklich so heißen.
Für das Versteckspiel gibt es vielerlei Gründe, Spaß, politischer Anspruch
und zugleich dessen ironische Brechung, auch Scheu vor Verantwortung und so
weiter. Bloß eine Wette gewinnen wollte der Schriftsteller Roda Roda. Man
hatte ihn geneckt, dass er viel könne, aber eines nicht: In Kürschners
Literaturkalender ganz vorn zu stehen. Roda Roda hielt dagegen, und in der
nächsten Ausgabe stand an erster Stelle: „Aaba Aaba, siehe Roda Roda“. Mit
doppeltem a, um auf Nummer sicher zu gehen.
Genau genommen war es ein Drittname, weil schon Roda Roda ein Pseudonym
ist, eigentlich hieß er Sandór Friedrich Rosenfeld. Gleich vier Decknamen
für seine fünf Ichs brauchte Kurt Tucholsky, um seinen vielfältigen Ausstoß
nach Form, Stil und Inhalt aufzuteilen, darunter zwei neckische, „Theobald
Tiger“ und „Peter Panter“. Mit ihm aufnehmen kann es Hans Magnus
Enzensberger aka „Serenus M. Brezengang“ alias Poetiker und Sprachkritiker
„Andreas Thalmayr“ beziehungsweise Erotikautorin „Elisabeth Ambras“ und
Kinderbuchautorin „Linda Quilt“ plus „Trevisa Buddensiek“ und „Giorgio
Pellizzi“ und „Benedikt Pfaff“.
## Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Alvaro de Campos
Alle übertrifft Fernando Pessoa, der über 70 Pseudonyme und Heteronyme
benutzte – Letzteres die Namen mit erfundener Biografie ausgestatteter
fiktiver Gestalten, denen er seine Werke auf den Leib schrieb. „Ich fühle
mich vielfältig“, bekannte Pessoa: „Ich bin wie ein Zimmer mit unzähligen,
wundersamen Spiegeln, die eine einzige zentrale Wirklichkeit falsch und
verzerrt reflektieren“ – ein prophetischer Kommentar zum heutigen Ich-,
Identitäts- und Authentizitätsgewurstel. Einem Quatsch übrigens, der doch
im Internet, siehe oben, vor aller Augen unbemerkt ad absurdum geführt
wird!
Eine Person teilt sich in mehrere auf – das ist das eine; das andere:
Mehrere Ichs erschaffen sich ein gemeinsames Ego. Ein altes
Germanistenbeispiel sind die 1805 erschienenen „Nachtwachen“ von
„Bonaventura“, recte: Ernst August Klingemann und Friedrich Schlegel. Ein
neues ist der 2002 auch auf Deutsch erschienene Roman „Q.“ von „Luther
Blissett“, Sammelname eines italienischen Kollektivs, dessen Mitglieder
anonym blieben. Die Verfasser wollten es so, weil sie die bürgerliche
Vorstellung von Autorschaft als individueller Leistung ablehnten. Paradox
ist, dass sie dann nicht ihre Einzelnamen nannten, sondern als Verfasser
ein leistungsstarkes Individuum vortäuschten, um beim bürgerlichen Publikum
kommerziell zu punkten. (Ähnlich das „Unsichtbare Komittee“, das „Der
kommende Aufstand“ schrieb.)
Sammelpseudonyme sind im Übrigen nicht selten. Manche Zeitungen halten
einen Kunstnamen bereit für Beiträger, die nicht genannt sein wollen; so
trieb sich in den achtziger Jahren ein „Joachim Wehrmann“ beim Göttinger
Tageblatt herum. Man denke auch an das Kürzel „N.N.“, das für „nomen
nescio“ (Ich weiß den Namen nicht) steht, oder an Redeweisen wie „Herr und
Frau Soundso“. Im Englischen heißt der Platzhalter „John Doe“, der auch …
der Polizeiarbeit für unidentifizierte Leichen gebräuchlich ist.
## Schtonk!
Es liegt im Wesen der Pseudonyme, dass nicht alle gelüftet werden können
oder sollen. Ein berühmtes ist „B. Traven“. Die verrückteste Theorie
kolportierte 1967 der Stern-Reporter Gerd Heidemann, der sich später mit
den Hitler-Tagebüchern endgültig blamierte: Danach war B. Traven ein
unehelicher Sohn Kaiser Wilhelms II. Inzwischen glaubt man es besser zu
wissen: B. Traven soll der 1882 in Schwiebus (heute: Świebodzin) geborene
Maschinenschlosser und Gewerkschaftssekretär Herrmann Albert Otto Max Feige
sein, der sich 1918 als Schriftsteller, Theaterschauspieler und
anarchistischer Revolutionär „Ret Marut“ (ein Anagramm aus „Der Traum“)
nannte und 1924 nach Mexiko emigrierte.
Die Frage bleibt, ob das Bestreben, Pseudonyme aufzudecken, immer am Platz
ist. B. Traven wollte es nicht, ebenso wenig jene Italienerin, die als
Elena Ferrante eine Romanreihe über den unterschiedlichen Lebensweg zweier
Freundinnen aus Neapel geschrieben hat. 2016 lüftete der Journalist Claudio
Gatti das Geheimnis: Elena Ferrante ist Anita Raja, die 1956 geborene
Tochter der aus Deutschland 1937 geflohenen Jüdin Golda Petzenbaum und des
Napolitaners Renato Raja. Unter ihrem bürgerlichen Namen überträgt sie
deutsche Literatur ins Italienische. Als Elena Ferrante hatte sie stets
betont, dass das Werk wichtiger sei als sein Autor. In der Tat stellt sich
die Frage, was mit dem Wissen gewonnen ist: Das Geheimnis ist gelüftet und
die Welt um eines ärmer.
Dass sie ohne Pseudonyme auch weniger schön wäre, wissen Autoren schon
lange. Johann Fischart (1546–1590) gab sich pompöse Namen wie „Johann
Artwisus von Fischmenzweiler“ oder „Huldrich Christ zu Gotstatt bey
Bethaven“; Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622–1676) nannte
sich „Melchior Sternfels von Fugshaim“ oder „Simon Lenfrisch von
Hartenfels“.
Lustige, groteske und alberne Namen gaben sich viele der Schriftsteller und
Minderdichter, die sich im 17. Jahrhundert zu Sprachgesellschaften
zusammenschlossen: „Der Abtrocknende“ (alias Volkmar Happe), „Der
Fortwuchernde“ (eigentlich Franz Erdmann Herzog von Sachsen-Lauenburg),
„Der Kitzelnde“ (d. i. Johannes Vogel).
Und wie ist das heute? Das fragt Sie: Sheriff Brummi.
27 Jan 2020
## AUTOREN
Peter Köhler
## TAGS
Pseudonyme
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Sprachkritik
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