# taz.de -- Die Wahrheit: Unfälle mit Todesfolge | |
> Neues aus der beliebten Rubrik „Sprachkritik“: Substantivierungsprozesse | |
> zeitigen sprachliche Schmerzzustände. | |
Bild: Ausufernde Substantive können Zungen vehement hemmen | |
Schöne und anrührende Wörter hat das Deutsche, Wörter wie „Liebeszauber“ | |
oder „saumselig“. Es hat sonderbare Wörter wie „nichtsdestoweniger“ und | |
alte wie den „Buschklepper“, manche „goldig“ wie ebendieses. Aber es hat | |
auch lange und hässliche wie die | |
„Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung“. | |
Juristen und Verwaltungsbeamte verstehen Texte nur, wenn sie kompliziert | |
formuliert sind. Damit die Gesetze und Vorschriften wasserdicht sind, | |
schrauben sie an der Sprache herum, bis alles Leben aus ihr gewichen ist | |
und das Drehkreuz zur „Personenvereinzelungsanlage“ und die Schubkarre zum | |
„Einachsigerdreiseitenkipper“ geworden ist. An einer leichteren Form dieser | |
Krankheit leiden Journalisten, denn was wichtig genommen werden soll, muss | |
gewichtig daherkommen: „In großer Runde beisammensitzen und essen“ – tun | |
Alt und Jung das gern?! Nein: Das „hat bei Jung und Alt einen hohen | |
Stellenwert“. „Apotheken hängen an der Ärzteversorgung. Insbesondere auf | |
dem Land?“ Nein! „Insbesondere in der ländlichen Fläche.“ (TK Aktuell) | |
Substantivierung kennzeichnet mehr und mehr, ach was: „in zunehmendem Maße“ | |
die öffentliche Rede und die Alltagssprache. Die Bürger der DDR waren nach | |
der Wiedervereinigung zeitweise arbeitslos? Nein, sie „waren von Phasen der | |
Arbeitslosigkeit betroffen.“ (NDR 4) Wurden Juden in den USA diskriminiert? | |
Nein, sie „waren Diskriminierung ausgesetzt“ (taz). Menschen werden auch | |
nicht verschleppt, entrechtet und gedemütigt: Sie sind „von Verschleppung, | |
Entrechtung und Demütigung Betroffene“ (Göttinger Tageblatt), was den | |
Akzent weg von den Taten auf das ja viel wichtigere seelische Befinden, | |
nein: auf die psychologische Befindlichkeit verlagert. | |
Solche Nominalisierungen, die „in der Summe“ die Sprache und über sie die | |
Weltsicht verändern, werden „in Serie“ verwendet, doch können „in der K… | |
der Zeit“ (3sat) beziehungsweise der Enge des Raums hier nicht alle | |
berücksichtigt werden. Fest steht, es trifft sogar Adjektive, Präpositionen | |
und Pronomen: Im Straßenverkehr gibt es keine „tödlichen Unfälle“ mehr, | |
sondern bloß kaltblütig zu verbuchende „Unfälle mit Todesfolge“, auch wi… | |
es nicht mehr bis zu 37 Grad heiß, sondern es „werden 37 Grad in der | |
Spitze“ (NDR 4); Dinge geschehen nicht nach, sondern „in der Folge des | |
Mauerfalls“ (taz), und Weihnachten muss man nicht „egal, wie“, sondern | |
„egal in welchem Style“ (taz) hinter sich bringen. | |
## Stillstand durch Substantive | |
Verben sind dynamisch und bringen Schwung in die Sache. Substantive bringen | |
ein Geschehen zum Stillstand, frieren es ein. Wo aber ein Vorgang, eine | |
Entwicklung nicht zum Verschwinden gebracht werden kann wie im Wort | |
„Demokratisierung“, lenkt man ab, wenn es „Demokratisierungsprozess“ he… | |
an die Stelle der Erneuerung der inhaltlich entkernte „Erneuerungsprozess“ | |
tritt, die Modernisierung dem „Modernisierungsprozess“ (taz) weicht: Der | |
Akzent verlagert sich von Inhalt und Ziel – also Erneuerung, Modernisierung | |
und Demokratisierung – auf die Bewegung selbst. | |
Eine Aussage entleeren, dazu eignet sich der „Prozess“ überhaupt gut. | |
„Demütigungsprozesse“ benennt Helene Hegemann im Spiegel-Interview, womit | |
nicht mehr die Demütigung im Zentrum steht, sondern nebulöse Prozesse. Wie | |
schon Roland Barthes erkannte, dienen Substantive zur „Verschleierung der | |
Wirklichkeit“, damit im Sinne der Herrschenden der Status quo in Politik, | |
Gesellschaft und Wirtschaft betoniert wird. Die Herde aber, statt | |
aufzumerken, bedient sich willig weiterer Mittel der Vernebelung. Deshalb | |
gibt es „Opferzahlen“ zu beklagen anstelle vieler Opfer, und bei Gewalt ist | |
„oft das Thema Alkohol im Spiel“ (NDR 4), obwohl in Wahrheit Alkohol im | |
Spiel ist; als Thema spielt er bei Gewalt selten eine Rolle. | |
Häufig eine Rolle bei der sprachlichen Abstrahierung von der Realität | |
spielt die „Situation“, weil sie einen Zustand eingrenzt: Der | |
Fußballradioreporter schildert nicht die Stimmung im Stadion, die | |
unbeständig, veränderlich ist, sondern berichtet von der | |
„Stimmungssituation“ (NDR 4). Besonders schön: Es gibt keinen „Stress“ | |
mehr, sondern nur noch eine „Stresssituation“ (ARD), und statt von einer | |
angeschlagenen Gesundheit zu reden, heißt es: „Die Gesundheitssituation war | |
angeschlagen“, was ein Ding der Unmöglichkeit ist. | |
## Funktion des Menschen | |
Deutlich wird der Sinn und Zweck solcher Sprachmittel spätestens, wenn die | |
„Funktion“ bemüht wird und der Mensch zum Beispiel eine „Vorbildfunktion… | |
(taz) übernehmen muss, also zu funktionieren hat: „Substantive“, schreibt | |
Roland Barthes, „verfügen über eine Setzungsmacht, die darin besteht, dass | |
sie ‚funktionieren‘, also die Leute zum Appell rufen und sie in diesem | |
Sinne als Subjekte, nämlich Unterworfene konstitutieren.“ | |
Substantive bringen Sachverhalte auf den Begriff. Begriffe stehen fest und | |
ordnen die Wirklichkeit, bis sie festgefahren ist. Diese Wirklichkeit | |
eignen sich Hinz und Kunz denkend und sprechend an; die Sprache formt ihr | |
Denken und das Denken ihre Sprache. Wie Ihre, goldige Leser? | |
11 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Peter Köhler | |
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