# taz.de -- Die Wahrheit: O tempora, o Zores! | |
> Neues aus der beliebten Rubrik „Sprachkritik“: Die Zeiten werden immer | |
> verrückter – zumindest die grammatikalischen. | |
Bild: In unseren rasanten Zeiten färben sich manche Zungen blau | |
„Eins, zwei, drei, im Sauseschritt / läuft die Zeit, wir laufen mit“, | |
reimte Wilhelm Busch im 19. Jahrhundert. Seither hat sich das Rennen weiter | |
beschleunigt, sodass im späten 20. Jahrhundert selbst dem Suhrkamp-Verlag | |
schwindlig wurde und er für eine neue Karl-Kraus-Ausgabe mit dem Satz warb: | |
„Bald nach Erscheinen der ,Fackel’ war das rote Heft sofort vergriffen.“ | |
Inzwischen kann es im Rausch der Geschwindigkeit sogar passieren, dass die | |
Zeit sich selbst überholt und die Zukunft zur Vergangenheit wird: „In | |
seinem Krimi spielt der Franzose Jérôme Leroy durch, wie in Frankreich die | |
extreme Rechte an die Macht gekommen ist“ (taz nord) – soll heißen: Wie es | |
gekommen ist, so kommt es, wird es kommen und wird es gekommen sein, man | |
muss nur unter vier Alternativen die einzige falsche wählen. | |
So viel zu Frankreich; und Deutschland? Hier kommt auf NDR 4 die Jugend zu | |
Wort: „Angela Merkel war schon Kanzlerin, bevor wir geboren sind.“ Vollends | |
aus dem Ruder läuft die Zeit auf dem Balkan: „Als er in Belgrad ankam, | |
forderte er Neuwahlen und teilte mit, dass er sich erst mit der Politik | |
beschäftigen werde, bevor er sich behandeln lasse.“ (taz) | |
Die Zeiten sind verrückt, und das Tempus ist aus den Fugen. Klassisches | |
Beispiel ist die Konjunktion „nachdem“. Regelgerecht drückt sie das | |
zeitliche Vorher durch das Perfekt (und folglich Präsens im Hauptsatz) oder | |
das Plusquamperfekt (nebst logischerweise Imperfekt) aus, worauf schon vor | |
über 100 Jahren Gustav Wustmann in seinem Buch „Allerhand Sprachdummheiten“ | |
insistierte. | |
## Die Relativität des Tempus | |
Wenn heute in einer Biografie des Fußballers Julius Hirsch ein Satz so | |
anfängt: „Nachdem er aus dem Karlsruher FV ausgetreten ist“, geht er also | |
über hundert Jahre nach Wustmann wie weiter? So: „ist er in den Turnclub 03 | |
Karlsruhe eingetreten“. Anders als zu Wustmanns Zeiten weiß man heute | |
nämlich dank Einstein & Co. um die Relativität des Tempus und kann deshalb | |
feststellen: „Nachdem ihre Forderungen nach einem Mindestlohn unbeachtet | |
bleiben, wandten sie sich an die hessische Justizministerin.“ (taz) | |
Schon Wustmann musste zur Kenntnis nehmen, dass „nachdem“ auch kausal | |
verwendet wird, und zitierte grummelnd einen Satzanfang wie „Nachdem der | |
Kaiser keine weitere Verwendung für seine Dienste hat“. Auch in dem | |
zitierten Satz über die Mindestlohnforderung kann man ein „weil“ | |
heraushören. Aber nicht allein „weil“ ist durch „nachdem“ ersetzbar, | |
sondern sogar das Gegenteil, „obwohl“! Im Radio bilanziert ein Ehemann: | |
„Nachdem wir uns oft streiten, sind wir ein Herz und eine Seele.“ | |
Und dann gibt es noch eine Grauzone, wo alles falsch ist. Die taz schreibt: | |
„Nachdem Äpfel und Birnen zu den Kernobstgewächsen zählen, sind sie relativ | |
nahe verwandt.“ Sowohl „weil“ wie das verwandte „indem“ oder auch | |
„insofern“ passen nicht ganz. Man muss, nachdem, äh: weil der Nebensatz ein | |
dem Hauptsatz Gleichwertiges ausdrückt, es auch syntaktisch gleichrangig | |
sagen, am kürzesten so: „Als Kernobstgewächse sind Äpfel und Birnen relativ | |
nahe verwandt.“ | |
## Zeitpunkt des Handelns | |
Apropos „als“: Den Zeitpunkt zu markieren, an dem zwei Handlungsstränge | |
sich treffen, ist nicht Sache der Konjunktion „nachdem“, dafür ist „als�… | |
zuständig – außer in der taz: „Die Meute besteht aus sieben Mädchen, die | |
aus einem Survival Camp türmen, nachdem die Lehrerin sich als verrückt | |
erweist.“ Aber nachdem die taz dazulernt, wusste sie, dass dort, wo | |
„nachdem“ gestanden haben wird, „als“ gestanden hatte. Über ein Lände… | |
gegen Frankreich: „Als in der zweiten Hälfte Paul Pogba seine | |
Ausputzerrolle vor der Abwehr engagierter angegangen war, lief bei den | |
Deutschen nicht mehr viel.“ | |
Wenn auch, weil nachdem als obwohl stehen kann, niemand weiß, wie die | |
Zukunft der Konjunktionen heute aussieht und – nein, noch mal: Niemand weiß | |
heute, was morgen sein wird. Aber weiß man, was gestern war? Man sollte es, | |
weil die Gegenwart das Resultat der Vergangenheit ist. Aber zugleich formt | |
die Gegenwart sich ihre Vergangenheit: Völker träumen sich ihre Geschichte | |
schön, die Mormonen taufen Tote, um deren Seelen zu retten – und im Sport | |
werden nicht bloß aktuelle Weltranglisten geführt. | |
Ein Foto vom Schachturnier in Frankfurt am Main 1878 zeigt laut | |
Schachzeitschrift Karl den „Sieger Louis Paulsen, der zum Zeitpunkt des | |
Frankfurter Kongresses Weltranglistenerster war“ – ein echtes Kunststück, | |
denn die von chessmetrics.com gebastelte Liste gab es damals so wenig wie | |
den Bedarf nach solchem Quatsch. | |
Wen schert’s? Tempus fugit, der Zeitpunkt entflieht! „Notorious B.I.G. | |
begann ab dem zwölften Lebensjahr mit Drogenverkauf“, heißt es in einer | |
„Kriminalgeschichte der Künste“; dpa weiß über ein Importverbot: „Es t… | |
ab dem 1. Mai in Kraft“, also jeden Tag aufs Neue; und „die Komiker | |
beliefern auch den seit Ende Oktober gestarteten YouTube-Kanal Ponk“ | |
(Spiegel): Möge der Zauber, der jedem Anfang innewohnt, nie enden. Die Zeit | |
rast – wir rasen mit! | |
12 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Peter Köhler | |
## TAGS | |
Sprachkritik | |
Tempus | |
Zeit | |
Pseudonyme | |
Saskia Esken | |
Künstlernamen | |
Türkei | |
Sprachkritik | |
Quellen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Aaba Aaba und der Kitzelnde | |
Die Poesie der Namen (II): Ohne Pseudonyme wäre die Welt noch ärmer und um | |
einiges weniger schön. Dafür lassen sich einige Beispiele finden. | |
Die Wahrheit: Zwei wie Zünder und Dynamit | |
Schurken, die die Welt beherrschen wollen. Heute: die neuen Sozi-Granaten | |
Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans („Sasesnowabo“). | |
Die Wahrheit: Merkwürdige Mystifizinskys | |
Die Poesie der Namen: Künstler- und Decknamen sind nicht unwichtig, | |
manchmal sogar dringend notwendig. Pseudonyme können Leben retten. | |
Die Wahrheit: Ruhm und Preis dem Rais! | |
Lobet alle laut und lang den Herrn der Türken, den großen Staatenlenker, | |
den unfehlbaren Weisen und Weltführer Recep Tayyip Erdoğan. | |
Die Wahrheit: Eine rund sechsköpfige Gruppe | |
Neues von der Sprachkritik: Ein Artikel über Artikel, die mal bestimmt, mal | |
unbestimmt und mal abschätzig verwendet werden. | |
Die Wahrheit: Zersungene Zitate | |
Worte in den Mund gelegt: Es gibt viele bekannte Aussprüche, die gar nicht | |
von den ihnen zugeschriebenen Verfassern sind. |