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# taz.de -- Die Wahrheit: Eine rund sechsköpfige Gruppe
> Neues von der Sprachkritik: Ein Artikel über Artikel, die mal bestimmt,
> mal unbestimmt und mal abschätzig verwendet werden.
Bild: Mancher Artikel liegt blauschwer auf der Sprecherzunge
Wenn Freunde lange auf einen Nachzügler warten, beschwichtigt wohl
irgendwann einer die Ungeduldigen mit den Worten: „Ach, der kommt schon!“
Und eine stimmt zu: „Na ja, der ist halt immer etwas spät dran.“ Wenn die
Leute einander nicht so gut kennen, heißt es eher: „Er wird den Termin doch
nicht vergessen haben?“ Und jemand versichert: „Er wird schon kommen!“
„Der“ klänge in diesem Zusammenhang abfällig, und das gilt auch fürs
geschriebene Wort, das sich an eine anonyme Menge wendet. Dennoch schreibt
die taz über „Roland Kaiser. Der trat Anfang 2015 in Dresden auf bei einer
Kundgebung gegen Pegida“, obwohl sie bei dieser Gelegenheit doch mit ihm
hätte sympathisieren können. Beim nicht so linksgrün versifften Göttinger
Tageblatt verwundert es weniger, dass es über den
Rechtsextremismus-Forscher Samuel Salzborn dies schreibt: „Salzborn
schaltet sich regelmäßig in öffentliche Debatten ein. So warf der dem
Publizisten Jakob Augstein wegen dessen Äußerungen zur israelischen
Außenpolitik Antisemitismus vor.“
Aus Süddeutschland, wo der Sepp und die Zenzi dahoam sind, stammt die
Angewohnheit, Vornamen mit Artikel zu versehen. Für norddeutsche Ohren
klingt das allerdings weniger familiär als abschätzig. Nicht anders im
geschriebenen Deutsch: „Der Balthasar, der ist verliebt und macht Verse,
dem können Sie allerlei Zeug einreden, aber bei mir kommen Sie schlecht
an!“ (E. T. A. Hoffmann: „Klein Zaches genannt Zinnober“).
Das geht natürlich auch mit vollen Namen. „Hundert wäre der Arno Schmidt in
diesem Jahr geworden“, so einst die taz – besser zu Gesicht steht es ihr
allerdings, statt gegen revolutionär neue Schreibweisen erprobende
Schriftsteller gegen konservative Politiker zu sticheln: „Seit sieben
Jahren ist der Volker Bouffier schon böse auf die FR.“ Oder gegen Pfaffen:
„Anfang Oktober öffnete die Schlosskirche ihre Tür, wo der Luther am 31.
Oktober 1517 seine Thesen angeschlagen haben soll.“ (taz)
## Gern überflüssig
Nur fragt sich, ob die Invektive überhaupt Absicht ist, ist der kindliche
Artikel vor Namen oder Berufsbezeichnungen doch keine Seltenheit mehr. „Der
König Ludwig XVI. gab dieses Gemälde in Auftrag.“
Überhaupt steht der Artikel gern dort, wo er überflüssig ist: „Dem
Angeklagten wird die Beihilfe zum Mord vorgeworfen“ (taz); oder über
Kanada: „Die Hauptstadt ist die viertgrößte Stadt Ottawa“ (arte-Magazin).
Mehr noch: Der bestimmte Artikel steht sogar, wenn das Bezeichnete
unbestimmt ist wie im Fall einer „Rede, die der englische Staatsmann aus
dem letzten Jahrhundert, Jones Seymon, 1932 gehalten hat“
(de.chessbase.com). Man hätte hier eher einen anderen englischen Staatsmann
erwartet, schon aus dem Grund, dass er der englische Staatsmann des 20.
Jahrhunderts war: der Winston Churchill. Sorry: Winston Churchill.
Der bestimmte Artikel steht also, wenn der unbestimmte am Platz wäre; und
umgekehrt! „Das Ruhrgebiet kämpft mit dem '1. Tag der Trinkhalle’ gegen ein
weiteres Aussterben seiner Tradition“, schreibt das Göttinger Tageblatt,
was nicht ganz falsch und nicht ganz richtig ist. Was auszusterben droht,
ist klar benannt (die Trinkhalle), und im Hintergrund steht, dass es eine
Tradition unter anderen ist – präzise sollte es also heißen: „Das
Ruhrgebiet kämpft mit dem ,1. Tag der Trinkhalle’ gegen das weitere
Aussterben einer Tradition.“
## Selbstverständlich verkehrt
Einfacher ist dieser Fall: „Das Oberlandesgericht Schleswig hat einen
Besitzer einer Photovoltaikanlage zur Rückzahlung von rund 200.000 Euro
EEG-Beihilfe verurteilt“ (taz), obwohl er doch als der Besitzer der Anlage
genau bestimmt ist. Genauso hier: „Abubaker C. soll im Mai in ein Haus
eines Rentnerehepaars in Bad Friedrichstal eingedrungen sein“ (taz) – oder
hatte das Rentnerehepaar mehrere, wenigstens aber zwei Häuser? Und hier:
„Der rund sechsköpfigen Gruppe wird vorgeworfen, ein Auto eines Polen in
Brand gesetzt zu haben“ (taz) – hatte der Pole wirklich mindestens ein
weiteres Auto? Selbstverständlich, sonst stünde ja der bestimmte Artikel!
(„Rund sechsköpfig“ ist auch sehr gut.)
Ein letztes Zitat: „Mehmet Öcalan, der jüngere Bruder des PKK-Chefs, hatte
erstmals wieder eine Erlaubnis bekommen, seinen Bruder auf der
Gefängnisinsel Imrain zu besuchen“ (taz) – warum ein, nein: der unbestimmte
Artikel, obwohl genau bestimmt ist, wozu die Erlaubnis dient? Und ein
allerletztes! Dass im US-Senat „die Republikaner eine Mehrheit besitzen“,
weiß der Spiegel, aber was ist das für eine andere Mehrheit, die sie
demnach außerdem besitzen?
Wird ein Spiegel das herausfinden und eine Welt darüber aufklären? Nein,
bevor jetzt mit solchen Fragen eine große Verwirrung über einen richtigen
Gebrauch des oder eines Artikels ausbricht, schließt eine Glosse wie diese.
Sagt ein Autor, über den Sie jetzt vielleicht stöhnen: „Ach, der mit seinen
Sprachkritiken!“
23 Oct 2019
## AUTOREN
Peter Köhler
## TAGS
Sprachkritik
Stilistik
Künstlernamen
Mevlüt Çavuşoğlu
Sprachkritik
Türkei
Quellen
Heiko Maas
Friederike Weichselbaumer
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