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# taz.de -- Die Wahrheit: Zersungene Zitate
> Worte in den Mund gelegt: Es gibt viele bekannte Aussprüche, die gar
> nicht von den ihnen zugeschriebenen Verfassern sind.
Bild: Deichkind: „Wer sagt denn das?“
„Hey, wir Alten sind nicht einfach nur Scheiße!“ stand über der
Leserbriefseite, auf der ältere Leser auf die harsche Kritik reagierten,
die ihnen in einer von jungen Leuten redigierten Ausgabe der taz
entgegengeschlagen war. Wer die Briefe las, wunderte sich: In keinem stand
der als Zitat markierte Satz. Er war den Alten in den Mund gelegt
beziehungsweise aus ihren Briefen und Mails herausfantasiert worden.
Schon dem greisen Bundespräsidenten Heinrich Lübke war es, als er geistig
abbaute, ähnlich ergangen. Die Pannen bei öffentlichen Äußerungen häuften
sich, und weil es so schön war, dichtete man ihm weitere Schnitzer an. Mit
„Equal goes it loose“ soll er die Queen bei ihrem Staatsbesuch 1965 auf den
Großen Zapfenstreich eingestimmt haben – eine Erfindung, ebenso wie die
Anrede: „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger!“: fingiert von
Presseleuten, die den senilen Alten auf seinen Afrikareisen begleiteten und
statt Lübkes patriarchalischer, aber wohlwollender Haltung besser ihren
eigenen Rassismus decouvriert hätten.
Richtig ist das nicht, aber Journalismus. Das eine wird erfunden, das
andere zurechtgebogen, das dritte falsch eingeordnet. Die Zeitschrift Karl
behauptet: „Berühmt wurde der Hans Traxler zugeschriebene Vers ,Die
schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche'“ – eine echte
Elch-Meldung! Wenn man den Merkvers nicht richtig F. W. Bernstein
zuschreibt, dann wenigstens seinem Bruder im Geiste Robert Gernhardt. Er
war dabei, als sein Kollege bei einem freundschaftlichen Wettstreit den
Zweizeiler dichtete – und er ihn noch mit „Die schärfsten Kritiker der
Molche waren früher ebensolche“ zu übertrumpfen versuchte.
Dass es um den korrekten Nachweis in der Wissenschaft nicht besser bestellt
ist, weiß man seit von und zu Guttenbergs tiefem Fall. Jüngstes Beispiel
droht Dr. Franziska Giffey zu werden, die in ihrer Diss plagiiert und
fehlerhaft zitiert haben soll. Na und? Die Doktorarbeiten der meisten
Politiker sind in aller Regel wissenschaftlich wertlos und dienen nur als
Turbo im Karriererennen.
## Beam mich hoch, Harry
Warum sollten sie es auch beim Zitieren genau nehmen? Die Leute, die sie
repräsentieren, Hinz und Kunz, scheren sich im Alltag auch nicht groß um
Wahrheit und Wortlaut. An geflügelten Worten lässt es sich beweisen: Der
Satz „Beam me up, Scotty“ ist in einer der 79 Folgen von „Star Trek“
beziehungsweise „Raumschiff Enterprise“ ebenso wenig gefallen wie in 281
Folgen der ZDF-Serie „Derrick“ der Befehl des titelgebenden Kommissars an
seinen Assistenten Klein: „Hol schon mal den Wagen, Harry.“ Weder sagt
Humphrey Bogart in „Casablanca“ jemals „Play it again, Sam“, noch ist a…
dem Flug von Apollo 13 der Satz „Houston, wir haben ein Problem“ genau so
gefallen.
Sinngemäß schon; es liegt auf der Hand, dass die gefälschten Zitate eine
Situation auf den Punkt bringen und insofern das Original bzw. die Realität
verbessern. Oder auch versimpeln. Um auf die Wissenschaft und die mit ihr
verbandelte Politik zurückzukommen: Wer in den 70er Jahren politisiert
wurde, kennt die von Marx formulierte Grundregel: „Das Sein bestimmt das
Bewusstsein.“ Aber Marx hat sie nirgendwo formuliert. Zugegeben: Die
Ausrede, der Kernsatz fasse den Grundsatz von Marx’ materialistischer
Philosophie zusammen, stimmt insofern, als er diese simplifiziert, damit
auch schlichte Gemüter sie zu begreifen wähnen, also wir alle.
Außer Marx & Co wurden in den siebziger Jahren Brecht und Tucholsky viel
gelesen und zitiert, zum Beispiel: „Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie
längst verboten.“ Richtig; aber falsch, weil der Satz nicht von ihnen,
sondern einer der damals in Spontikreisen umlaufenden Sprüche war, die (wie
Witze oder Anekdoten) keinen namentlichen Urheber haben.
## Vorurteil Vorurteil
Nach wie vor gern genommen wird der Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg.
Ja, es stimmt: „Gesetzt den Fall, wir würden eines Morgens aufwachen und
feststellen, dass plötzlich alle Menschen die gleiche Hautfarbe und den
gleichen Glauben haben, wir hätten garantiert bis Mittag neue Vorurteile“ –
aber leider ist das nicht von Lichtenberg. Es ist eine aufs Wesentliche
zugespitzte und gänzlich umformulierte Äußerung des Preußenkönigs Friedrich
II.: „Ich möchte beinahe versichern, dass in einem Staat, wo alle
Vorurteile ausgerottet wären, keine dreißig Jahre vergehen würden, ohne
dass man neue aufkommen sähe; worauf die Irrtümer sich mit Geschwindigkeit
ausbreiten und das Ganze wieder überschwemmen würden“.
Zitieren ist nicht paraphrasieren, es kommt auf jedes Wort an. Wenn also
Lichtenberg in einer Anthologie des Diogenes-Verlags mit dem Aphorismus
zitiert wird: „Das viele Lesen hat uns eine gehörige Barbarei zugetragen“,
dann ist das inkorrekt, weil es richtig und sinniger um eine „gelehrte“
Barbarei sich handelt.
In der Musik spricht man vom Zersingen, wenn der Text eines populär
gewordenen Kunstliedes im Lauf der Zeit zum einfacheren Volkslied
banalisiert wurde. Zerreden könnte man es nennen, wenn präzis formulierte
Sätze für den Alltagsgebrauch mundgerecht gemacht werden. Doch es geht auch
anders! Ein Beispiel für eine gelungene Verbesserung konnte man diesen
Sommer wieder vernehmen: Als vor fünfzig Jahren, am 21. Juli 1969, die
Mondfähre von Apollo 13 auf dem Erdtrabanten aufgesetzt hatte und Neil
Armstrong die Kapsel verließ, sprach er die berühmten Worte: „Das ist ein
kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die
Menschheit.“ Nein, sprach er nicht! In seiner Aufregung sagte er „That’s
one small step for man, one giant leap for mankind“, womit er seine Tat zu
einem kleinen Schritt „für den Menschen“ machte und paradoxerweise den
Gattungsbegriff Mensch der Gattung Menschheit entgegensetzte.
## Voltaire hat's schwer
Darf man mit der richtigen Überzeugung für den guten Zweck fälschen? „Ich
hasse, was du sagst, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du es
sagen darfst“ – ein heroisches Versprechen, das Voltaire gemacht haben
soll. Aber es war bloß die englische Schriftstellerin Evelyn Beatrice Hall,
die ihm den Satz 1903 in ihrer Lebensbeschreibung „The Life of Voltaire“ in
den Mund legte und unbedacht aus einem Menschen, dem nach nacheifern kann,
einen Übermenschen machte, dem man besser nicht folgt.
„Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint“, soll Tucholsky
gesagt haben. Ein guter Spruch, nur nicht von Tucholsky.
30 Sep 2019
## AUTOREN
Peter Köhler
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