# taz.de -- Kuratiertes Hören: Bitte Ruhe! | |
> Der moderne Mensch trägt Headset. Das macht ihn weitgehend unerreichbar | |
> und reduziert die Außenwelt zur bloßen Lärmquelle. Eine Beschwerde. | |
Bild: Wunsch der Headset-TrägerInnen: kein Geräusch, zumindest keines, das si… | |
Hamburg taz | Als Kind dachte ich, das Gehör sei das einzige Sinnesorgan, | |
das man nicht ausschalten könne. Dabei ließ ich das Riechen unter den Tisch | |
fallen, mich beschäftigte mehr, dass man die Augen schließen konnte und | |
damit tatsächlich für Bilder von außen unerreichbar wurde. Aber selbst wenn | |
man sich die Ohren zuhielt, gab es keine Kontrolle über die Geräusche, die | |
einen erreichten. Das dachte ich damals zumindest, und der Gedanke hatte | |
etwas Aufregendes. | |
Diese Zeiten sind vorbei. Wenn man sich umschaut, sieht man massenweise | |
Leute, die die Kontrolle gewonnen haben über das, was an akustischer | |
Außenwelt zu ihnen vordringt. Glaubt man einer [1][Studie] des | |
Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien | |
(Bitkom), nutzen fast zwei Drittel der über 16-Jährigen in Deutschland | |
Kopfhörer, über die Hälfte davon mehrmals pro Woche. Wozu? Knapp die | |
Hälfte, um damit „die eigene Umwelt auszublenden“, schreibt Bitkom, ohne | |
das weiter zu kommentieren, die Dinger verkaufen sich schließlich sehr gut. | |
Kopfhörer sind die gegenwärtige Form des Lärmschutzes, sie haben die | |
Nachfolge von Oropax angetreten und natürlich sind die Ohrstöpsel | |
Pillepalle im Vergleich zu ihnen. Denn was da mit oder ohne Kabel am Ohr | |
sitzt, verhindert nicht nur, dass ungefiltert Außengeräusche eindringen – | |
es sorgt gleich für ein Gegenprogramm. Der Kopfhörerträger ist nicht länger | |
passiver Empfänger akustischer Botschaften, er ist Kurator, mehr noch, er | |
ist nur noch Sender. | |
Dass Geräusche von außen, seien sie menschlicher oder tierischer oder | |
mechanischer Herkunft, als [2][Störung] empfunden werden, ist nichts Neues | |
– das sah man schon lange vor der Industrialisierung so. Schon der römische | |
Satiren-Dichter Juvenal machte den nächtlichen Handels- und Reiseverkehr – | |
tagsüber waren die Straßen Roms überfüllt – für zahlreiche Tode wegen | |
Schlaflosigkeit verantwortlich. Im 19. Jahrhundert wird aus den privaten | |
Klagen über Lärm eine öffentliche Frage. | |
Der Historiker Jan-Friedrich Missfelder beschreibt, wie im London des | |
Jahres 1864 ausgerechnet auf Mitbetreiben von Charles Dickens, dem | |
Chronisten des städtischen Prekariats, das öffentliche Drehorgelspiel | |
eingeschränkt wurde. Dickens steht damit stellvertretend für zahllose | |
Intellektuelle des 19. und 20. Jahrhunderts, die in ihrer | |
Lärmempfindlichkeit das Kennzeichen geistiger Empfindsamkeit und Größe | |
sehen. | |
## Betäubt vom Lärm | |
Und natürlich war die Wirtschaft bereit, sich in den Dienst dieser | |
Empfindsamkeit zu stellen: Bereits 1885 kam das sogenannte Antiphon als | |
Lärmschutzinstrument auf den Markt, eine Hartgummikugel mit Metallbügel, | |
das sich aber in der Handhabung als unpraktisch erwies. | |
Der Philosoph Theodor Lessing sammelte seinen Zorn 1908 in der Schrift „Der | |
Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens“. Lange bevor | |
Musik zur Grundausstattung von Kaufhäusern und Yoga-Studios wurde, lange | |
vor der Privatisierung der Geräuschwelt durch die Kopfhörer witterte er in | |
der allgemeinen Lärmkulisse ein „Narkotikum, mit dem der moderne Mensch | |
sich zu betäuben und die Nichtigkeit seiner eigenen Existenz zu verdrängen | |
suche“, so schreibt der Wiener Historiker Peter Payer. | |
Lessing gründete in Hannover einen Antilärm-Verein, der unter anderem | |
Karten mit der Aufschrift „Ruhe ist vornehm“ drucken ließ. Eben dieser | |
elitäre Gestus ließ etwa den Lärm, dem die Arbeiter in den Fabriken | |
ausgesetzt waren, völlig außer Acht. Selbst über den Geräuschpegel in der | |
Umgebung zu bestimmen – das war in den Augen der bürgerlich-intellektuellen | |
Lärmfeinde ein Privileg, das nur Geistesarbeiter brauchten. | |
2018 gaben laut Statistischem Bundesamt 28 Prozent der Deutschen an, sich | |
in ihrem Wohnumfeld durch Verkehrs- oder Nachbarschaftslärm belästigt zu | |
fühlen. Das waren zwei Prozent mehr als im Vorjahr und immerhin zehn | |
Prozent mehr als im europäischen Durchschnitt. | |
Wobei Lärm eine subjektive Größe ist, der allein durch die Vermessung in | |
Dezibel nicht beizukommen ist. Die „Zielgröße“, so sagen | |
Akustik-ForscherInnen, ist die Wahrnehmung. Es ist eine banale Wahrheit: Ob | |
man das Getrappel der Kinder in der Nachbarwohnung für erträglich hält oder | |
nicht, hängt stark davon ab, wie viel Sympathie man den Kindern als | |
solchen, möglicherweise auch ihren Eltern entgegenbringt. | |
Die HistorikerInnen, die versuchen, die in vielem ungewisse Geschichte der | |
Geräusche nachzuvollziehen, sind sich einig, dass der Kampf gegen den Lärm | |
der Industrialisierung auch deshalb so überschaubar blieb, weil die | |
Lärmquellen gesellschaftliche Achtung genossen: die Eisenbahn, die Autos, | |
all das waren Neuschöpfungen, denen man, wenn nicht mit Begeisterung, dann | |
allemal mit Achtung vor dem technischen Fortschritt begegnete. | |
So schwer greifbar wie die Natur des Lärms ist die der Lärmempfindlichkeit. | |
Fragt man bei der Geschäftsführerin der Hamburger Beratungsstelle „Mieter | |
helfen Mietern“, ob die Zahl der nachbarliche Lärmkonflikte steigt, so sagt | |
sie: eher nicht. Aber ein Thema sind sie. Olaf Büchsenschuss, | |
Sozialarbeiter bei der Hamburger Wohnungsgenossenschaft von 1904, meint, | |
dass rund die Hälfte der Nachbarschaftsstreits sich am Lärm entzünden. „Mal | |
über Wohngeräusche, mal über Kinder, mal über laute Musik oder | |
Handwerksarbeiten.“ | |
Und das querbeet: Alte und Junge, Kinderlose und Eltern, Akademiker und | |
Arbeiter beschweren sich. Die Geräuschempfindlichkeit hat die soziale | |
Schranke weitgehend genommen – nur dass die Akademiker noch etwas stärker | |
auf ihr Recht pochen, ihre Lärm-Wahrheit ist die ganze Wahrheit. Und da | |
haben sie, anders als sie selbst es annehmen mögen, sogar etwas verstanden: | |
Lärm ist ein soziales und zeitgebundenes Phänomen. | |
## Negation der akustischen Außenwelt | |
Je höher die tatsächliche oder gefühlte Anspannung im sozialen und | |
Arbeitsleben, desto geringer die Akzeptanz weiterer Belastungen zu Hause. | |
Wir alle, denen alles zu viel wird, glauben ein Anrecht auf ein | |
störungsfreies Zuhause zu haben. Frei von Geräuschen, die wir nicht selbst | |
angefordert haben. Denn natürlich geht es nicht um Stille, da sei der | |
Himmel vor, es geht um die selbst komponierte Geräuschkulisse. | |
Was das Neue daran ist: es ist die absolute Negation der akustischen | |
Außenwelt. Hier wird nicht mehr unterschieden zwischen Außengeräuschen, die | |
stören, und solchen, die wir an uns heranlassen. Wir, denen alles zu viel | |
ist, tragen den Kopfhörer draußen und drinnen. | |
Aber eigentlich gibt es kein Draußen mehr: Verlassen wir unseren privaten | |
Raum, so versuchen wir so lange wie möglich, unser Zuhause mit uns zu | |
nehmen. Sei es als Trinkgefäß, das wir mit uns führen, sei es als | |
Kopfhörer, der uns zuverlässig in der Audio-Welt belässt, die wir | |
irgendwann als Dauerschleife eingerichtet haben. | |
Auch wenn wir es erst einmal nicht glauben mögen: Die Stadt ist leiser | |
geworden. Die heutigen Autos sind weniger laut als die Räder der | |
Pferdekutschen, die Signalgeräusche der Hupen und Klingeln sind mit der | |
Einführung der Ampeln verstummt. | |
Wer heute Kopfhörer trägt, will sich nicht vor Lärm schützen. Auf eine | |
verquere Art tut er oder sie das, was all jene tun, die neuerdings | |
Desinfektionsmittel aus ihren Handtaschen ziehen: Er schützt sich gegen | |
eine als unrein empfundene Umwelt. Was von außen kommt, stört. Die reale, | |
falsche Tonspur wird durch eine künstliche, bessere ersetzt. Der Kopfhörer | |
ist ein „Bitte nicht stören“-Schild, das aus dem öffentlichen Raum einen | |
riesigen Hotelkomplex macht, in dem jede Kontaktaufnahme bereits ein | |
Übergriff ist. | |
Die Frage, was deren Dauernutzung für physische und psychische Folgen hat, | |
ist wissenschaftlich bislang wenig beleuchtet. „Die Datenlage ist sehr | |
überschaubar“, sagt der Psychoakustiker André Fiebig von der TU Berlin. | |
Dass es Folgen hat, sich akustisch von der Umwelt zu entkoppeln, davon geht | |
er aus. | |
Das Gehör ist das Warnsystem, das den Menschen rund um die Uhr schützt, | |
selbst im Schlaf. „Ich vermute, dass es zu Unsicherheit führt“, sagt Fiebig | |
– auch wenn es den Beteiligten gar nicht klar ist. Eines seiner Themen ist | |
„Soundscaping“, also die akustische Gestaltung öffentlicher Räume, etwa m… | |
einem Springbrunnen im Tiergarten. Aber, so fragt sich Fiebig, wozu | |
öffentliche Klangräume anlegen, wenn sich gerade alle in die privaten | |
verbarrikadieren? | |
Mit den Headsets ist die Nutzerin noch undeutbarer für die Außenwelt | |
geworden, als sie es mit Kopfhörern war. Hört sie gerade Musik, telefoniert | |
sie oder ist sie ansprechbar? Die Headsets, eine Kombination aus Kopfhörer | |
und Mikrofon, die man Sprechgarnitur nennen könnte, aber es nicht tut, weil | |
es zu altmodisch klingt für ihren | |
Funktionskleidungsallzeitbereitpragmatismus, sind immer kleiner, | |
leistungsfähiger und komfortabler tragbar geworden. | |
Wenn ich sie sehe, denke ich in die Vergangenheit und Zukunft zugleich. Sie | |
erinnern an die Ausstattung von Piloten der 50er-Jahre und zugleich wirken | |
sie wie eine Vorstufe für die Zeit, in der man Sprechgarnituren | |
implantiert. Sie sind ein Zwischenschritt: schon jetzt greifen ihre | |
NutzerInnen viel komfortabler und unauffälliger aufs Digitale zu, wobei es | |
weniger wie ein Zugriff wirkt – es ist ein Eintreten in die digitale Welt. | |
Warum also das Headset überhaupt noch herausnehmen? Noch ist das eine | |
Frage, die sich stellen lässt; wen es interessiert, kann Kolumnen zum Thema | |
Sex mit und ohne Airpod lesen, deren Halbwertszeit jetzt schon absehbar | |
ist. | |
Der Historiker und Stadtforscher Peter Payer hat in einem Interview gesagt, | |
dass mit dem Handyaufkommen etwas zurückgekommen ist in die moderne Stadt: | |
die menschliche Stimme. Payer sagt zudem, dass wir uns an die umfassende | |
technologische Revolution, deren Zeugen wir sind, erst noch gewöhnen | |
müssen. | |
Als ich Kind war, hörte man, nicht oft, aber ab und an, Menschen mit sich | |
selbst sprechen. Noch jetzt passiert es mir gelegentlich, dass ich kurz | |
annehme, jemanden im Selbstgespräch anzutreffen oder jemanden, die Stimmen | |
hört. Tatsächlich sind es fast immer Handygespräche und es ist seltsam, | |
dass es in gewisser Hinsicht keinen Unterschied macht: Beides sind | |
Gespräche, die nicht auf einen Dritten angelegt sind. | |
Das Headset ist für die Kommunikation das, was der SUV für den Verkehr ist: | |
ein sichtbares Zeichen der Bedeutungslosigkeit jeglicher Außenwelt. Wichtig | |
ist nur das drinnen. Es ist lustig, was der Sozialarbeiter Olaf | |
Büchsenschuss über die Folge der Sanierungen der Genossenschaftswohnungen | |
gesagt hat: Da sie besser isoliert sind, bleibt der Schall stärker im Haus. | |
Drinnen wird alles lauter und Büchsenschuss weiß schon vor der Sanierung, | |
dass danach die Lärmbeschwerden kommen werden. | |
Der Kopfhörer ist eine akustische Sanierung seiner TrägerInnen. Fragt sich | |
nur, ob sich irgend jemand über die Folgen beschweren wird. | |
30 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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