# taz.de -- Nasan Tur stellt in Osnabrück aus: Deutschland, ein Horrorfilm | |
> Eine wirkmächtige Ausstellung über unser aller Ängste: Nasan Tur zeigt | |
> seine Video-Arbeit im Osnabrücker Felix-Nussbaum-Haus. | |
Bild: Schutzlos, verletzlich: Nasan Tur in seiner Installation „Deutschland“ | |
Hamburg taz | Es beginnt gespenstisch, albtraumhaft, wild: Aus einer | |
dunklen Nische hallen jähe Schritte, stürzend, fliehend, jagend, wie | |
getrieben. Jemand hetzt durch die immer gleichen Räume, wankt, stoppt, | |
gleitet aus, stößt an, schlägt fast hin, unausgesetzt. Wir sehen ihn von | |
hinten. Wir sind ihm so nahe, dass wir fast mit ihm verschmelzen. Ein Bett | |
ist zu sehen, sekundenkurz, eine Kommode, eine Tür. Das Bild ist riesig, | |
schwarz-weiß, unscharf, bewegungsverschwommen. Es fesselt, es bannt, es | |
reißt mit, in einem blindem Vorwärts, das kein Ziel kennt, kein Ende | |
findet. Ein Raum der Angst. | |
[1][Nasan Tur]s Videoloop „Run“ gelingt eine kraftvolle Symbiose mit der | |
expressiven, skulpturalen Architektur des [2][Nussbaum-Hauses] im | |
Museumsquartier Osnabrück: Die ist von kippenden Linien und schrägen | |
Fensterbändern geprägt, von überschweren Türen wie für Bunker, von einem | |
Labyrinth winkeliger Gänge, Treppen und Räume. | |
Irgendwann ist aus der Tiefe des Dunkels, links von uns, ein quälender Ton | |
zu hören. Wer ihm folgt, in einen beklemmenden, wie zersplitterten Raum mit | |
Wänden aus Beton und Metall, steht vor einer Drehorgel, von einem einzelnen | |
Scheinwerfer aus den diffusen Schatten gestanzt. | |
Auf den ersten Blick wirkt die Installation „Deutschland“ bieder: | |
Blümchenmalerei, Drechselwerk. Aber die schwarzen Räder sind verstaubt, wie | |
aus einem Horrorfilm. Und was das Lochband spielt, in gellendem Pfeifen, | |
dumpfem Grollen, heiserem Kreischen, verstört zutiefst: Die Nationalhymne, | |
verzerrt, zerhackt, halb verschluckt, bis zur Unkenntlichkeit verlangsamt, | |
überdehnt. | |
## Die Angst der Gesellschaft | |
Ein paar schrille Töne, Stille, ein verwundeter Melodiefetzen, Stille. Die | |
Kurbel dreht sich wie von unsichtbarer Hand, rasend schnell, rumpelt, | |
knackt, zerwirbelt die Luft. Wann die Orgel stoppt, wann sie danach erneut | |
zu spielen beginnt, weiß man nicht. Zeigt „Run“ die Angst des Einzelnen, | |
zeigt „Deutschland“ die Angst der Gesellschaft: Die Suche nach dem | |
Vertrauten ist eine Suche ohne Finden. | |
[3][Nasan Tur] ist der zweite Künstler der neuen Reihe „Gegenwärtig. | |
Zeitgenössische Künstler*innen begegnen Felix Nussbaum“. Und seine | |
Auseinandersetzung mit Nussbaum, dem 1944 in Auschwitz ermordeten Maler der | |
Neuen Sachlichkeit, dessen Vermächtnis das Haus bewahrt, reißt den Besucher | |
hart aus der Erinnerung an das Leid des Einst ins Hier und Jetzt. | |
Verletzlichkeit teilt sich mit, Schmerz, Schutzlosigkeit, ohnmächtiges | |
Aufbegehren. Ja, das tut weh. Sehr. Aber das ist gut so. | |
Wie schonungslos Tur sich „nackt macht“, wie der Wandtext von Kuratorin | |
Mechthild Achelwilm so treffend sagt, bevor wir „Deutschland“ erreichen, | |
zeigt auch das riesige Foto „Agony“: Ein Lamm beißt einem Schakal in die | |
Kehle. Oder ist es ein Kuss? Tierpräparate hat Tur zur Skulptur arrangiert, | |
stark ausschnitthaft fotografiert, um 90 Grad gedreht; plötzlich geht es | |
nicht mehr nur um die Umkehr von Machtverhältnissen, sondern um die Macht | |
des Perspektivwechsels. | |
Eine mutige Schau, die dem Betrachter viel Offenheit abverlangt. | |
„Schließlich geht es um unser aller Schwäche und Fragilität“, sagt | |
Achelwilm, bis in deren Büro das leiernde, monotone Schreien der Orgel | |
gellt, obwohl mehrere Wände dazwischenliegen. „Das ist wie ein Blick in den | |
Spiegel.“ Auch ihr Aufsichtspersonal spüre das deutlich: „Bei uns allen | |
hier im Haus bewegt das viel, gedanklich wie emotional.“ | |
## Hintersinn und Ehrlichkeit | |
Tur setzt auf Unterschwelligkeit, auf symbolistischen Hintersinn – und auf | |
die Selbstbefragung des Betrachters. „Ich bin kein Mensch, der Lösungen | |
hat“, sagt der Berliner Documenta-Teilnehmer. „Ich gebe auch nicht vor, | |
welche zu haben; ich bin ein Mensch mit vielen Fehlern. Aber ich versuche, | |
so ehrlich zu sein wie möglich.“ | |
Turs Ehrlichkeit geht extrem weit. Mitten in der Nussbaum-Sammlung, im | |
ersten Stock, einen schrägen, endlos langen, hohen, schmalen Gang hinauf, | |
läuft das 5-Minuten-Video „In My Pants“. Es zeigt ihn fast lebensgroß. Tur | |
steht reglos, in einem leeren, hellen Raum, und scheinbar geschieht, lange, | |
nichts. Aber das täuscht: Tur nässt sich ein; Urin läuft sein Hosenbein | |
hinab. Ein Bild der Angst, des Selbstzweifels; zutiefst persönlich – und | |
doch ein Bild von uns allen. | |
„Das ist bei Rom entstanden, in der Villa Massimo“, sagt Tur mit Blick auf | |
sein Selbstporträt. „Da gibt man dir das Gefühl, zur künstlerischen Elite | |
zu gehören. Du bekommst Geld, eine schöne Wohnung, ein Atelier. Aber ich | |
sehe mich nicht als Elite. Also habe ich dort ‚In My Pants‘ aufgenommen.“ | |
Wie das Motiv der Drehorgel ist auch die Villa Massimo eine Parallele | |
zwischen Tur und Nussbaum. Tur war 2014 dort, Nussbaum 80 Jahre vorher. | |
Dass „In My Pants“ hier oben steht, scheinbar abseits der Ausstellung, ohne | |
jede Wegeführung, ist kein Manko. Es erhöht die Verzahnung zwischen beiden | |
Künstlern, zwischen Einst und Jetzt. Eine herausfordernde kuratorische | |
Entscheidung, aber eine glückliche. „Liquide“, sagt Achelwilm dazu. | |
Eine Ausstellung, die Gänsehaut erzeugt, in der Besuchern die Tränen | |
kommen. Empathie setzt sie frei. Und im Frühjahr kehrt Tur zurück, für das | |
flankierende Partizipativprojekt „Osnabrücker Exilfenster“. Dazu besucht er | |
hier im Exil Lebende, sammelt ihre Geschichten, blickt aus den Fenstern | |
ihrer Wohnungen, dokumentiert diese Blicke auf die Stadt. Auch das eine | |
Suche. | |
5 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] /!5361009 | |
[2] /Umstrittener-Kunst-Verkauf/!5423351 | |
[3] http://www.nasantur.com/ | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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