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# taz.de -- Einführung in die Emotionalität
> AUSSTELLUNG Der Künstler Nasan Tur führt mit der Schau „Funktionieren“ …
> der Galerie Blain Southern auf analytische Weise vor, wie ein Kunstwerk
> entsteht, zudem untersucht er unseren medialen Alltag
Bild: Nasan Tur, „Morality is ridiculous“, (2015)
VON Lorina Speder
Die aktuelle Ausstellung des Künstlers Nasan Tur bei Blain Southern heißt
„Funktionieren“. Wenn etwas, also ein Gegenstand oder eine Anlage
funktioniert, ist das grundsätzlich positiv. Sollte damit aber ein Mensch
gemeint sein, der funktioniert, hat das einen leicht negativen Unterton.
Auf beide Wortbedeutungen geht der in Berlin lebende Künstler in seinen
neuen Werken auf den zwei Etagen der Galerie an der Potsdamerstraße ein.
Die erste Installation in der 40 Meter langen Galerie-Halle des
Erdgeschosses ist eine Druckerwerkstatt. Dort zeigt Tur, wie ein Kunstwerk
entsteht. Der gesamte Prozess, den ein Werk durchläuft, wird abgebildet.
## Traditionelle Technik
Freitags und samstags arbeitet der Künstler persönlich mit seinen
Mitarbeitern in der Werkstatt und führt dabei vor, wie ein traditioneller
Holzschnitt angefertigt wird. Mit dieser uralten Reproduktionstechnik
druckt Tur Slogans wie „Empathy Is Naive“ oder „Control Is Necessary“.
Davon lassen sich beliebig viele Abzüge produzieren. Durch ölbasierte
schwarze Farbe werden die zuvor bearbeiteten Buchstabenblöcke auf das
Papier transportiert, das dann zum Trocknen aufgehängt werden muss. Wird
jeder der Arbeitsschritte sorgfältig ausgeführt, funktioniert der Prozess.
Jeder Teil der Installation, also auch die fertigen Holzschnitte, die
Drucke, oder die gesamte Installation kann erworben werden.
Tur ist vor allem an den konträren Verbreitungsmethoden der Nachrichten in
alter Herstellungsweise und den sozialen Medien interessiert. Der Kontrast
soll einen bewussteren Zugang zu den Worten ermöglichen. Heutzutage würde
man Turs Slogans nämlich am ehesten als Eintrag auf Facebook erwarten. Der
Künstler fordert durch die Verlangsamung des Herstellungsprozesses eine
ausführlichere innere Auseinandersetzung mit den Statements – etwas, das
ein „Gefällt mir“-Klick im Netz oftmals nicht symbolisiert. In der oberen
Etage versucht Tur wie er selbst sagt, mit der „Ohnmacht des Verarbeitens
von tagespolitischen Ereignissen“ klarzukommen. Durch die Medien seien wir
täglich mit Zahlen von Getöteten und anderen tragischen Vorfällen
konfrontiert. Es sei sein innerer Anspruch, diesen nackten Zahlen, die in
den Nachrichten eher abstrakt klingen, mehr Beachtung zu schenken. So
begann er im letzten September eine Serie, in der er die Anzahl der Toten,
das Datum der Nachricht und den Ort des Geschehens auf Blättern verewigte.
Die großen gemalten Zahlen aus anthrazit-blauer Aquarellfarbe, die von
einem, drei oder mehr als 700 Opfern sprechen, sind in der Galerie neben
zwei großen Bildern platziert, die den Titel „Sea View“ tragen. Der
romantische Begriff, der oft mit einem teureren Hotelzimmer durch die
schönere Aussicht verbunden wird, täuscht.
Zwar sehen die Berge und das Mittelmeer im Sonnenuntergang friedlich aus,
aber die Tragik des einstigen Pressebildes ist verborgen. Tur schnitt die
Flüchtlingsboote, die auf dem Original zu sehen waren, aus dem Bild. Mit
diesem Wissen wird das Grauen und der Friedhof namens Meer noch präsenter.
Der Titel der Ausstellung rückt beim Betreten der oberen Etage die Frage in
den Fokus, wie ein Mensch angesichts der Flut schlimmer Nachrichten noch
funktionieren kann. Die aus Selbstschutz aktivierte Verdrängung macht
Nachrichten deshalb nicht weniger schlimm. Tur selbst sieht seine intensive
Beschäftigung mit dem Thema als eine Art Heilung. Der interessanteste
Aspekt der Ausstellung ist sicher, dass Tur mit unterschiedlichen Arten von
Offenlegungen arbeitet.
## Prozesse abbilden
Er möchte Besucher in die Realität seiner Arbeit und seiner Emotionalität
einführen. Die Offenlegung des Arbeitsprozesses an einem Holzschnitt ist
per se nicht spektakulär. Jeder von uns kann sich vorstellen, wie eine
Druckerwerkstatt aussieht. Trotzdem wird körperliche Arbeit und Mühe an
einem Kunstwerk oft unterschätzt. Dass die Verbreitung von Worten einst mit
diesem handwerklichen Prozess verbunden war, ist aber auch eine weitere
Verbindung zu seinen Werken in der oberen Etage. Für seine Recherche
wertete Tur viele Zeitungen und digitale Medien aus. Aber seine
Auseinandersetzung greift tiefer – Turs Beschäftigung mit Nachrichten ist
auch ein Offenlegen seines Inneren. Repetitive Verdeutlichungen und
politische Themen sind Turs Spezialität.
In einer vorherigen Ausstellung schrieb er das Wort „Kapital“ in 800
verschiedenen Variationen mit Tusche und hing die Bilder an die Wände der
Galerie. Was damals eine gesellschaftliche und ökonomische Frage war, wird
nun mit den drastischen Opferzahlen an den Wänden zur politischen und
humanistischen Frage. Tur schafft es damit erneut, eine Gegenüberstellung
vom öffentlichen Handeln und privater Tatenlosigkeit zu kreieren, die hier
auch eine persönliche Hilflosigkeit beinhaltet.
Bis 28. Januar 2017, Blain Southern, Potsdamer Straße 77–87, Di.–Sa. 11–…
Uhr. Die Galerie ist vom 24. Dezember bis zum 2. Januar geschlossen.
9 Dec 2016
## AUTOREN
Lorina Speder
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