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# taz.de -- Rentenreform in Frankreich: Der Streik geht weiter
> Paris ist vollgestopft, die Menschen vermeiden öffentliche
> Verkehrsmittel. Eine Studentin hat sich noch nie so sehr für Politik
> interessiert wie jetzt.
Bild: Seit über einem Monat halten die Streiks in gegen Macrons Rentenreform an
Streiktag Nr. 38: Es ist noch finster. Im Nieselregen des frühen Vormittags
steht Eugénie Doumba an einer Kreuzung an der Avenue La Motte-Piquet. Sie
blickt besorgt nach links und rechts. Kommt der Bus 28?
Normalerweise brauche sie für den Weg in den Vorort Pontoise im Norden von
Paris 45 Minuten. Und jetzt? „Zwei oder zweieinhalb Stunden, und ebenso
lange oder noch mehr für den Heimweg. Ich stehe jeden Morgen zwischen 5 und
6 Uhr auf. Zum Glück sind meine sieben Kinder schon groß“, sagt die
50-Jährige, die mehrere Kranke und Betagte betreut. Aber auch so ist dieser
[1][seit Anfang Dezember andauernden Streiks] im öffentlichen Verkehr der
Hauptstadt für sie mühsam. „Wir sind müde, es muss ein Ende haben“, seuf…
sie.
Das hofft ein paar Meter weiter an der Bushaltestelle der Linie 92 auch ein
elegant gekleideter 40-Jähriger. „Ich habe im Radio gehört, dass heute
Gespräche zwischen der Regierung den Gewerkschaften stattfinden. Seien wir
optimistisch!“, meint er. Seit mehr als einem Monat sei er mit seinem
Fahrrad ins Büroviertel La Défense gefahren. „Ich brauche etwa 35 Minuten.
Auf die Dauer ist mir dieser morgendliche Sport zu viel. Zudem ist das
Radfahren gefährlicher als sonst. Nicht nur wegen der gestressten
Autofahrer. Viele Leute mieten ein Rad oder einen Roller, haben wenig
Erfahrung mit dem Pariser Straßenverkehr. Heute versuche ich es mit dem
Bus.“ Schließlich nimmt er dann doch ein Taxi bis an den westlichen
Stadtrand.
Die Taxiunternehmen, aber auch Uber gehören wie die Mietradverleiher zu den
Gewinnern in diesen chaotischen Tagen, in denen der Arbeitsweg für die
Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel zum Hindernislauf wird.
Das ändert deutlich das Stadtbild in der Frühe und am Ende des Nachmittags.
Paris marschiert. War das der Sinn von [2][Emmanuel Macrons] „République en
marche“? Was jedoch immer wieder erstaunt, ist die fast stoische
Gelassenheit der Bevölkerung. Auf der Ringautobahn mahnen elektronische
Hinweisschilder, die sonst Infos über Staus an den Toren der Hauptstadt
liefern: „Grèves – Pensez covoiturage!“ Die Fahrer sollen
Mitfahrgelegenheiten anbieten. Nicht alle können so eine Alternative finden
oder während der Streiks Urlaub nehmen beziehungsweise Überstunden
abbummeln.
Viele Ärzte bestätigen, dass sich ihre Patienten wegen Erschöpfung oder
Depressionen krank melden und ein Attest wünschen. „Mir reicht es. Das
belastet moralisch und physisch wirklich sehr“, sagt die Bankangestellte
Sélina. Seit einem Monat benötigt sie eine Stunde mehr als sonst für ihren
Weg nach Reuil-Malmaison und zurück.
## „Drücken wir die Daumen“
„Heute diskutieren die Gewerkschaften mit der Regierung. Vielleicht wird
dabei zumindest eine Einigung bezüglich des Rentenalters erzielt. Beide
Seiten müssen da einen Schritt machen. Drücken wir die Daumen“, sagt die
Mittvierzigerin. Doch sehr optimistisch ist sie nicht. Fast zur selben Zeit
hat das Koordinationskommitee von fünf Gewerkschaftsverbänden erklärt, für
die kommende Woche seien weitere Aktionen geplant, wenn die Regierung nicht
auf ihre Reform verzichte.
„Wir haben uns noch nie so sehr für die Politik interessiert oder engagiert
wie jetzt. Unsere Generation ist am stärksten und auf lange Zeit gefährdet
von dieser Reform“, erklären Jeanne (18) und Laura (19), die an der
Sorbonne und der École du Louvre Kunstgeschichte studieren. Sie haben am
Donnerstag an der Gewerkschaftskundgebung auf dem Platz der Republik
teilgenommen und wollen am Samstag erneut gegen die Regierungspläne
demonstrieren.
Die Berlinerin Gertraude Brauer (77) berichtet, sie habe ihre für den
Besuch der Leonardo-da-Vinci-Ausstellung gebuchte Hin- und Rückfahrt
umbuchen müssen. Für die Anreise sei der französische TGV zum Glück durch
einen ICE ersetzt worden. Die Francis-Bacon-Ausstellung im Centre Pompidou
habe sie nun aber nicht gesehen, weil dieses Museum wegen des Streiks des
Personals schon um 17 Uhr geschlossen worden sei. Überhaupt findet sie, da
würden vor allem Sonderinteressen von Staatsangestellten verteidigt.
Obschon sie vor ihrer Pensionierung selber Beamtin gewesen ist, hat sie
wenig Verständnis für die Gegner der Reform. „Ich hoffe, dass Macron es
schafft, das alles irgendwie zu verändern.“
10 Jan 2020
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## AUTOREN
Rudolf Balmer
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