Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Greta Thunberg fährt Deutsche Bahn: Reisen auf harten Gnubbeln
> Die Klimaaktivistin sitzt im ICE auf dem Boden vor der Klotür – und
> bewegt damit die deutsche Twittergemeinde. Warum eigentlich? Ein Brief an
> Greta.
Bild: Greta Thunberg in einer Position, die man in Deutschland gut kennt
Liebe Greta Thunberg,
du hast das möglicherweise noch nicht mitbekommen, weil du mittlerweile zu
Hause bei deiner Familie angekommen bist. Oder weil du nach strapaziöser
Reise vom UN-Klimagipfel gen Stockholm in einem Zug der schwedischen Bahn
im Takt der Schienen eingeschlafen bist. Aber hier in Deutschland geht
gerade die Post ab wegen eines Fotos, das du aus einem [1][Zug der Deutsche
Bahn] AG [2][getwittert hast].
Du kauerst da auf dem Boden aus grauem Teppichfilz und schaust müde schräg
nach oben aus dem Fenster. Hinter dir stapeln sich Koffer und Reisetaschen,
rechts neben deinem Fuß steht eine Pappbox für Fastfood. Du trägst
Jogginghose und Stricksocken, Kapuzenjacke und blaue Sneaker. Das Kinn hast
du auf deinen linken Handballen gestützt. Und geschrieben hast du: „Reisen
in überfüllten Zügen durch Deutschland. Und ich bin endlich auf dem
Heimweg!“
Dieses Bild bewegt die deutsche Öffentlichkeit über alle Maßen. Ich würde
dir gern kurz erklären, warum. Damit du nicht allzu überrascht bist, wenn
du – nach deinem schwedischen Bahn-Schlummer – in [3][deinen
Twitter-Account] schaust und dort unangemessen viele Kommentare aus
Deutschland vorfindest.
## Die anhaltende Twitterbeweinung
Zuerst einmal musst du wissen, dass die Deutschen zu ihrer Bahn ein sehr
persönliches Verhältnis pflegen. Viele Menschen – sehr gerne
JournalistInnen und PolitikerInnen – beweinen Tag für Tag auf Twitter jede
Verspätung, jeden veränderte Wagenreihung und jeden kaputten
Kaffeeautomaten im Bordbistro.
Der hieß früher Speisewagen – aber seit die Deutsche Bahn vor 15 Jahren in
eine zu hundert Prozent dem Staat gehörende Aktiengesellschaft umgewandelt
worden ist, bemüht sich die Konzernführung um so viel Englisch wie möglich.
Die Deutschen schätzen derlei nicht. Zwar geben sie nicht gern zu, dass ihr
Englisch nicht das allerbeste ist (the german Bildungssystem is
Ländersache). Sie kriegen sich vor Häme auch fast nicht mehr ein, wenn sie
der Zugchef über die Bordlautsprecher in genuscheltem Englisch zutexten
muss, auf welcher platform ihr verspäteter Zug hält und welche connecting
trains sie heute wieder verpassen. Because the Deutsche Bahn is a global
operierendes Unternehmen with passengers from all over the world, you know?
## Der komische Geruch
Zum anderen bewegt viele BürgerInnen dein Foto so sehr, weil jeder,
wirklich jeder hierzulande weiß, wie sich das anfühlt, zwischen Chemieklo
und schlammigen Botten der Mitreisenden dem Reiseziel entgegenzudämmern. Es
riecht komisch und der Filzboden hat so harte Gnubbel, stimmt's? Gut, dass
du die Jogginghose dabeihattest. In Deutschland nennt man das „Reisen in
vollen Zügen genießen“ – ein Wortspiel. Anyway.
Interessant finde ich ja, dass dir niemand einen Platz angeboten hat. Ich
meine, Greta Thunberg steigt in meinen ICE, um heim gen Norden zu reisen?
Ich hätte dir vielleicht meinen Platz angeboten, dir was Nettes gesagt – in
my broken English – und dir, der weltberühmten Klimaaktivistin, einen
erholsamen Schlaf gewünscht. Vielleicht.
Tatsächlich aber hätte ich dich wohl kurz gemustert, wie du mit deinen
Koffern und Taschen und der Chinanudelbox durch die Gänge treckst. Ich
hätte aus sicherer Entfernung ein Handyfoto von dir gemacht und noch mal
ein bisschen an meiner Ellbogenfreiheit gegenüber meinem Sitznachbarn
gearbeitet.
## Die heilige Sitzplatzreservierung
Denn da verstehen wir Deutschen keinen Spaß. Bei uns gibt es die heilige
Sitzplatzreservierung. Und wer nicht schnell genug war, wer seine
Reisepläne ändert oder unbedingt gen Schweden aufzubrechen gedenkt, der
oder die muss halt sehen, wo sie bleibt. Greta hin oder her – meine
vierfuffzich Verlust erstattet mir ja keiner. Du, die vom Time Magazine
gerade [4][zur Person des Jahres 2019] gekürt wurdest, kriegst nicht meinen
Sitzplatz. Come clear.
Liebe Greta, noch was Positives, bevor du zu Hause ankommst und
idealerweise über die Weihnachtstage deinen Twitter-Account stilllegst.
Mich hat sehr gefreut, dass du Netz hattest. Dass du also überhaupt dieses
Foto aus einem fahrenden Zug senden konntest. Die Deutsche Bahn ist
berüchtigt für ihr schlechtes Internet, das natürlich WifiOnICE heißt, aber
eigentlich WifiOffICE heißen müsste. Du siehst: Da entwickelt sich was in
Deutschland.
Auf dem von dir geposteten Bild sieht man ja auch die Werbung des
Staatskonzerns für den digitalen Komfort-Check-in. Hättest du eh nicht
verstanden, ist ja fast komplett auf Deutsch geschrieben. Und ist auch
egal. Du hattest ja Platz: anderthalb Quadratmeter Nadelfilz. Gute Reise
und bis bald mal wieder hier in Berlin, wo dir die Politikerinnen und
Politiker sehr wahrscheinlich auch einen Sitzplatz anbieten werden.
Herzliche Grüße von Anja Maier
15 Dec 2019
## LINKS
[1] /Veraenderungen-bei-der-Bahn/!5649813
[2] https://twitter.com/GretaThunberg/status/1205969006982815751
[3] https://twitter.com/GretaThunberg
[4] https://time.com/person-of-the-year-2019-greta-thunberg/
## AUTOREN
Anja Maier
## TAGS
Greta Thunberg
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Klimawandel
Bahn
Deutsche Bahn
Greta Thunberg
Klimakonferenz COP25
Greta Thunberg
Schwerpunkt Fridays For Future
Deutsche Bahn
Greta Thunberg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Bahnfahrt der Klimaschützerin: Greta genießt's in vollen Zügen
Ein Tweet zeigt Thunberg im ICE auf dem Boden. Die Bahn entgegnet, sie sei
1. Klasse gefahren. Deutsche rasten aus. Was stimmt?
Abschluss der COP25: Eine Klimakonferenz zum Davonlaufen
Die USA, Saudi-Arabien, Australien und Brasilien verhindern auf der COP25
in Madrid jeden Fortschritt. Die wichtigste Frage wird vertagt.
Klimagipfel, Greta und Großbritannien: Genau so, nur andersrum!
Von der Leyen hat sowas wie einen Klimaplan, Madrid bloß Klimahäppchen und
die Bahn nicht mal Sitze. Das Klima zum Wochenbeginn.
Klimakonferenz in Madrid: Emotion gegen Emission
Auf der Klimakonferenz COP25 in Madrid prallt die Wut der Jugend auf die
Welt der Diplomatie. Die Demonstrant*innen halten sich nicht an die Regeln
der UNO.
Veränderungen bei der Bahn: In Elsterwerda in den IC
Günstigere Preise im Fernverkehr und Kleinstädte mit IC-Anbindung kündigt
die Deutsche Bahn an. Ab Sonntag gilt ihr neuer Fahrplan.
Ein Jahr Fridays for Future: Erst Hype, jetzt Demopause
Nach einem Jahr Fridays for Future ist die Luft raus. Einige Ortsgruppen
hören auf, wöchentlich zu demonstrieren.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.