# taz.de -- Virtual Reality in den neuen 20er Jahren: Lauter neue Welten | |
> VR ist heute schon mehr als Spielen – sie wird bei der Ausbildung | |
> eingesetzt, bei Therapien, in der Pflege. Und sie wird bald zum Alltag | |
> gehören. | |
Bild: Virtuell fliegen, fast so real wie in der Realität | |
Ich fliege über eine Südseeinsel, unter mir Palmen und Sandstrand und Berge | |
und Felsen, dahinter das Meer. Vor mir bilden hell leuchtende Kreise einen | |
Parcours – links, links, rechts, runter, hoch –, durch den ich mit meinem | |
Paragliding-Schirm fliegen soll. Meine Hände klammern sich fest an die | |
silbernen Karabinerhaken, links und rechts über meinen Schultern. Ziehe ich | |
den linken runter, fliege ich nach links. Oder war es umgekehrt? Wie sinke | |
ich? Beide nach unten ziehen? Während ich nachdenke, verpasse ich vier | |
Kreise, drifte nach links ab, die braune Felswand kommt immer näher. Ich | |
krache dagegen, mein Körper zuckt heftig zusammen, ich bin tot. | |
Ich wäre tot. Sitze aber wohlbehütet in diesem Gurtsystem, das an der Decke | |
baumelt, meine Füße schweben über dem Boden, auf meinem Kopf eine | |
Virtual-Reality-Brille. Wo gerade noch Meer und Fels war, wird es kurz | |
schwarz, dann beginnt der Parcours von vorne. Reset. Ich werde besser, mein | |
Sitz bewegt sich mit meinen Bewegungen, als schwebte ich wirklich in der | |
Luft. Nach fünf Minuten lande ich auf einer Plattform, dabei ziehe ich | |
instinktiv die Beine an den Körper, soll ja nichts kaputtgehen. | |
Als ich wieder festen Betonboden unter den Füßen habe, taumle ich, leicht | |
benebelt, und schwindlig ist mir. „Keine Sorge, das ist normal“, sagt Job | |
van Oosterhout. „Wir lassen unsere Kunden nie als Erstes [1][paragliden], | |
das wäre zu krass“, einige hätten sich hier nach dem virtuellen Flug schon | |
übergeben. Van Oosterhout, Ende 20, ist „Floormanager“ im | |
Virtual-Reality-Center „Enversed“ in Eindhoven, dem nach eigenen Angaben | |
größten seiner Art in Europa. Ich bin seit zwei Stunden hier und teste | |
Virtual Reality (VR). | |
Dabei taucht man mittels VR-Brille in eine computergenerierte | |
dreidimensionale Umgebung ein und kann in dieser durch Bewegungen | |
interagieren, sich fortbewegen, Dinge greifen. Man vergisst beim | |
Alien-Abschießen und Burgerbraten schnell, dass man sich eigentlich im 7. | |
Stock eines Fabrikgebäudes befindet, auf einer Fläche, 5 mal 5 Meter, weiße | |
Wände, grauer Boden, überall Bildschirme. | |
## VR für Makler und Kliniken | |
Enversed hat sich im Norden von Eindhoven eingemietet, im Eingangsbereich | |
ein großzügiges Café, mit Aufstellern abgetrennte Bereiche, mit Couch und | |
Bildschirm. Diese Separees können Gäste mieten, Firmen, Freunde, Familien, | |
und gemeinsam spielen. Jetzt, an diesem Vormittag Ende November, ist es | |
leer, am Abend tummeln sich hier bis zu 100 Gäste. | |
Hierher kommen nicht nur Spiele-Nerds. „Wir hatten letzte Woche vier Männer | |
bei uns, alle über 80, die haben hier zwei Stunden gespielt und hatten den | |
Spaß ihres Lebens“, sagt van Oosterhout. Er selbst führt seit über einem | |
Jahr die Highscoreliste beim Alien-Shooting-Spiel an. | |
Enversed begann als VR-Studio, entwarf und entwirft noch immer Spiele, die | |
man jetzt im Center direkt testen kann. Doch Spiele sind nicht das | |
Hauptgeschäft der Firma. Denn schon heute sind die Anwendungsfelder von VR | |
größer. So hat Enversed etwa das geplante Innendesign der neuen Züge der | |
niederländischen Bahn virtuell nachgebaut. Die Bahn testete so die | |
Nutzerfreundlichkeit, ohne die Züge tatsächlich bauen zu müssen. | |
Testpersonen konnten mit der VR-Brille umgeben von virtuellen Passagieren | |
durch die virtuellen Züge gehen und etwa sagen, welche Sitze sie wählen | |
würden oder wie sie die Abteile insgesamt bewerteten. Nach einigen | |
Testläufen wurde das finale Design entsprechend angepasst. Weitere | |
VR-Anwendungen hat Enversed für Makler entworfen, für Unternehmen und ihre | |
Auszubildenden, für Kliniken. | |
Die Verheißungen von VR waren schon einmal groß. In den 1990ern und frühen | |
nuller Jahren. Bisher gelang der Durchbruch in den Massenmarkt aber nicht | |
so richtig. Warum sollte sich das in den nächsten 10 Jahren ändern? | |
„Damals fehlte das technische Know-how. Große Kabel, schlechte Auflösung, | |
alles war teuer“, sagt Informatiker Frank Steinicke, der Professor für | |
Mensch-Computer-Interaktion an der Uni Hamburg ist. Das habe sich geändert. | |
Die gesamte Technik sei heute viel fortschrittlicher, alles deutlich | |
günstiger. Zudem investierten jetzt auch die großen Player wie Facebook, | |
Microsoft und Google. „Der Markt wird nicht mehr verschwinden, er wird viel | |
größer werden“, sagt Steinicke. | |
Wo wird sich VR in den nächsten Jahren durchsetzen, jenseits der | |
Spielebranche? „Social Media“, ruft Steinicke ins Telefon. „Wo wir jetzt | |
noch mit Smartphone oder Skype kommunizieren, werden wir mit Datenbrillen | |
bald unseren Gesprächspartnern als Avatare in einer virtuellen Welt | |
begegnen.“ 2020 etwa wird [2][Facebook Horizon] erwartet, eine | |
Social-VR-Welt, in der sich Nutzer Avatare erstellen und mit anderen | |
interagieren und spielen können. Darüber hinaus werde sich VR künftig in | |
etlichen Bereichen wiederfinden, sagt Steinicke. In der Ausbildung, der | |
Wirtschaft für Tests von Prototypen, aber auch in Therapieeinrichtungen. | |
Einige Unis nutzen VR bereits in der Lehre. So können | |
[3][MedizinstudentInnen in Gießen] mit einer VR-Brille die Knochen des | |
Handgelenks virtuell begehen und so einen besseren Eindruck der Anatomie | |
bekommen. Die Deutsche Bahn lehrt ihre Azubis seit wenigen Wochen das | |
Koppeln von Güterwaggons mittels VR. | |
Und auch im Therapie- und Pflegebereich wird VR eingesetzt. So gibt es | |
schon etliche Forschungsprojekte mit Konfrontationstherapien für Menschen, | |
die etwa Angst vor Spinnen oder vor Höhe haben. Bei [4][einer dänischen | |
Studie] wurden Menschen, die unter sozialer Angst leiden, mittels VR in für | |
sie stressige Szenarien versetzt – Hektik an der Supermarktkasse, eine | |
überfüllte Mensa. Die Vorteile der virtuellen Therapie: mehr Flexibilität | |
und stufenweise Steigerung des Stresslevels. Nur interagieren können die | |
PatientInnen in der virtuellen Welt noch nicht mit den virtuellen | |
Mitmenschen. Alles eine Frage der Zeit. | |
Während bei VR alles Reale um den Nutzer herum ausgeblendet wird, verbindet | |
die Schwestertechnologie Augmented Reality (AR) Fiktion und Realität. Bei | |
AR wird die Realität um virtuelle Elemente angereichert. Durch eine | |
durchsichtige Brille sieht man dann etwa den Schreibtisch, über dem ein | |
virtueller Terminkalender schwebt. Viele Anwendungen werden künftig auch | |
VR- und AR-Elemente verbinden. Das könnte aussehen wie ein Splitscreen: die | |
eine Hälfte AR, also die echte Welt mit Zusatzinfos, und die andere Hälfte | |
VR, ein Facebook-Avatar-Treff im Dschungel. | |
In 20 Jahren, da ist sich Frank Steinicke sicher, würden dafür keine | |
klobigen Datenbrillen mehr benötigt, die Technik werde auf | |
Kontaktlinsengröße schrumpfen. Man kann sich unendlich viele | |
Anwendungsmöglichkeiten vorstellen: Live-Infos über Denkmäler, die man | |
besichtigt, Daten über Menschen, die man trifft, virtuelle Werbefiguren, | |
die in Geschäften um Käufer werben. | |
Wenn die virtuelle Welt täuschend echt wird, wenn nicht mehr zu | |
unterscheiden ist, ob, was ich sehe, echt oder unecht ist, brauchen wir | |
neue Regeln, ethische und juristische? „Die Probleme haben wir ja jetzt | |
schon“, sagt Steinicke. Wir könnten kaum erkennen, ob Bilder oder Filme | |
Reales zeigen oder computergeneriert seien. „Die ethische Fragestellung | |
ist: Müssen wir immer wissen, ob etwas real oder virtuell ist?“ Darauf | |
müsse die Gesellschaft Antworten finden. | |
Einige Experten sehen auch die Gefahr der Suchtwirkung von VR, fürchten, | |
dass der Wunsch nach Weltflucht durch VR noch stärker wird, wenn die | |
virtuelle Realität nach eigenen Vorlieben gebaut werden kann. | |
Hollywood-Regisseur Steven Spielberg sprach schon 2018 von VR [5][als neuer | |
„Superdroge“]. | |
## Ernüchternde Rückkehr | |
Tatsächlich: In einer virtuellen Welt kann man das Leben leben, das man | |
will, kann Erfolg haben, Spaß haben, reich sein, alles, was einem Glück | |
beschert. Die Rückkehr in die reale Welt kann ernüchternd sein. | |
„Klar kann VR schon jetzt süchtig machen. Wenn man gar durch | |
elektromagnetische Impulse Virtuelles spüren kann, dann wird es extrem | |
süchtig machen“, sagt auch Job van Oosterhout von Enversed. | |
Gerade haben wir unter höchstem Stress in einer virtuellen Küche Burger | |
belegt. Zwei echte Menschen in einem virtuellen Raum. Auf meiner Seite | |
Tomaten, das untere Burgerbrot und Salat, auf seiner Käse, das obere | |
Burgerbrot und Fleisch. Ich greife das Brot, er wirft den Käse drauf, dann | |
ich zwei Tomaten, er Fleisch, dann Brot. So geht das in rasendem Tempo, wir | |
reden viel. „Ein ideales Spiel für Firmen, die Teambuilding vorantreiben | |
wollen“, sagt von Oosterhout, als ich erschöpft die Controller auf den | |
Boden lege. | |
Nach über zwei Stunden bin ich froh, als ich auf die Straße trete. Wind, | |
leichter Regen, echter Regen. Noch überstrahlt die reale Welt die | |
virtuelle. Noch. | |
1 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://enversedstudios.com/portfolio/vr-paragliding/ | |
[2] https://www.golem.de/news/facebook-horizon-ausprobiert-social-vr-soll-komme… | |
[3] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/104224/Medizinstudierende-in-Giessen… | |
[4] https://www.deutschlandfunk.de/virtuelle-konfrontationstherapie-mit-virtual… | |
[5] https://www.latimes.com/entertainment/movies/la-ca-mn-ready-player-one-spie… | |
## AUTOREN | |
Paul Wrusch | |
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