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# taz.de -- Künstler aus Island: Durchatmen und sich besser fühlen
> Jede seiner Arbeiten ist ein frischer Versuch, in Leben und Umwelt höhere
> Bedeutung zu finden. Hreinn Friðfinnsson wird in Berlin wiederentdeckt.
Bild: Hreinn Friðfinnsson, „Attending,“1973, Courtesy der Künstler und i8…
1972 veröffentlichte der isländische Künstler Hreinn Friðfinnsson in der
kurzlebigen holländischen Kunstzeitschrift Fandangos eine Anzeige mit der
Bitte, man möge ihm persönliche Geheimnisse schicken. Reaktionen blieben
damals aus. Erst als [1][Hans Ulrich Obrist 2009 die Anzeige] erneut in
seiner Zeitschrift Point d’Ironie veröffentlichte, bekam er Zuschriften.
Der Künstler hatte allerdings nicht die Absicht, diese Offenbarungen zu
lesen, geschweige denn, sie künstlerisch bekannt zu machen. Geheimnisse
sollen schließlich geheim bleiben. Er bewahrte die verschlossenen Briefe in
einem Karton auf, und als genug zusammengekommen waren, jagte er sie durch
einen Schredder und presste daraus eine quadratische Platte, die nun in den
Berliner Kunstwerken mitten im Raum installiert zu betrachten ist.
Dass es noch Leute gibt, die ein Geheimnis für sich behalten können, ist in
einer Zeit, in der Unternehmen wie Facebook und Google aus der
Monetarisierung unserer persönlichsten Informationen ein lukratives
Geschäftsmodell gemacht haben, irgendwie beruhigend.
Hreinn Friðfinnsson scheint als Künstler durchgehend uninteressiert an
übermäßiger Vermarktung und Popularisierung seines Werks geblieben zu sein.
Die Berliner Ausstellung, die zusammen mit dem Centre d’Art Contemporain in
Genf entwickelte wurde (und für die auch ein „Catalogue raisonné“ erstellt
wurde), ist die erste Retrospektive des inzwischen 76-Jährigen – trotz
einer Ausstellung an der Serpentine Gallery in London 2007 und der
Teilnahme an internationalen Ausstellungen wie dem [2][Skulpturenprojekt
Münster]. Und man müsste sie „sensationell“ nennen, wenn sich solche
aufdringlichen Begriffe für so eine leise, konzentrierte Ausstellung nicht
verbieten würden.
## Keine lauten Ansagen
Hreinn Friðfinnsson vermeidet in seiner Kunst laute Ansagen und
aufmerksamkeitsstarke Effekte. Aber aus einem Pappkarton und ein bisschen
buntem Karton eine Wandskulptur bauen, vor der man niederknien möchte, das
kann er. Aus einigen Stücken Maschendrahtzaun, aus denen er kleine Muster
geschnitten hat, entsteht an einer Wand vor dem geistigen Augen des
Betrachters ein Palast (Palace, 1990–2019). Die gesammelten Holzstöcke, mit
denen er im Atelier seit 1991 seine Farben angerührt hat, sind an zwei
Wänden angeordnet und nun eine Lichtung (Clearing, 1991–2019). Man atmet
einmal durch, saugt die frische Luft tief in die Lunge ein und fühlt sich
sofort besser.
Die Inspiration des isländischen Künstlers sind Alltagsgegenstände, oft
Fundstücke aus der Natur. Auch wenn viele seiner Arbeiten gestenhaft und
wie die Umsetzung jäher Eingebungen erscheinen, sind sie immer zu Ende
gedacht. Sie verwandeln Unscheinbares in Bedeutsames, Triviales in
Meditationen über letzte Fragen.
Selbst wenn Hreinn Friðfinnsson in einer kleinen Videoarbeit seine Hand am
offenen Fenster im Dämmer vor eine Kerze hält, wird daraus „der Schatten
einer linken Hand, der aus einem kleinen Zimmer auf eine Reise in die
Unendlichkeit geschickt wird“. Und die Spinnweben aus seinem Atelier finden
sich als „Atelier Sketch“ (1990–2012) im kleinen Rahmen wieder.
Hreinn Friðfinnsson wuchs in einem abgelegenen Dorf in Island auf, in dem
das einzige Bild die Reproduktion eines Ölgemäldes in der Wohnung des
Pfarrers war. Über zeitgenössische Kunst las er, lange bevor er sie zu
sehen bekam. Die Erfahrung, dass eine Zeile Text im Kopf ein Bild erzeugen
kann, mag ihn für die Konzeptkunst geöffnet haben.
## Zeitweise hütete er Schafe
Aber auch wenn viele seiner Arbeiten Text enthalten oder nur aus Text
bestehen, geht ihnen das Dogma und die Hartnäckigkeit ab, mit der viele der
US-Konzeptkünstler einen einmal entwickelten Ansatz ein Leben lang
durchexerziert haben. Hreinn Friðfinnsson hat nie zu einem Stil oder einer
Bildsprache gefunden und wollte es offenbar auch nicht. Jede seiner
Arbeiten ist ein neuer und frischer Versuch, in Leben und Umwelt höhere
Bedeutung zu finden. Oder wenigstens eine Quelle der Freude.
Als zeitweiliger Schäfer hatte der Künstler viel Zeit, sich in die Natur
und ihre langsamen Modifikationen der Umwelt zu vertiefen. 1974 baute er in
einem abgelegenen Gegend in Island eine kleine Hütte, deren Tapeten und
Gardinen sich an den Außenwände befinden. Durch die Fenster des Häuschens
guckt man in ein Außen von ein paar Quadratmetern, der Rest der Welt ist
unsere Behausung. Außer einem befreundeten Dichter hat niemand die Hütte je
von innen gesehen.
Im Interview im Ausstellungskatalog betont Hreinn Friðfinnsson, der seit
1971 in Amsterdam lebt, immer wieder den Einfluss, den isländische
Naturmythologie und Sagen auf seine Kunst gehabt haben. Die „Five Gates for
the South Wind“ entstand an einer Stelle an der isländischen Küste, an der
der Südwind die fünf Holztore auf-und zuschlagen konnte. Die Arbeit
überließ der Künstler nach Aufbau der Natur und kehrte nie wieder zu ihr
zurück. Da wundert es nicht, dass Ólafur Elíasson den Künstler als eine
seiner wichtigsten Inspirationen nennt.
15 Dec 2019
## LINKS
[1] /Wie-man-Kurator-wird/!5016122
[2] /Skulptur-Projekte-Muenster-2017/!5418304
## AUTOREN
Tilman Baumgärtel
## TAGS
Bildende Kunst
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