# taz.de -- Die SPD nach der Vorsitzendenwahl: Viereckiger Kreis | |
> Von der neuen SPD-Spitze wird eine Revolution erwartet. Aber zugleich | |
> muss sie die Partei mit sich selbst versöhnen. | |
Bild: Getrennte Schirme, getrennte Wege – oder zusammen? Das ist die große G… | |
Die Sozialdemokratie und die kommentierende Klasse, das wäre eigentlich | |
einmal eine Geschichte für sich: Da wird seit Jahren eine Stimmung | |
verstärkt, dass die Große Koalition das Letzte und die Sozialdemokraten fad | |
und konturlos in ihr gefangen seien. Dann brechen sie einmal spektakulär | |
aus dem „Weiter so“ aus – und dann ist es auch nicht recht. Jetzt heißt … | |
eben: unerfahrene, uninspirierte Anti-Parteiestablishment-Rebellen gewählt, | |
die die Partei an die Wand fahren werden. Kurzum: Was immer die SPD tut, es | |
ist falsch. | |
Nun liegt das gewiss nicht allein an Böswilligkeit des Kommentariats, | |
sondern schon an der SPD selbst. Das muss man ja erst einmal hinbekommen. | |
Eine Vorsitzende so zermürben, dass sie alles hinwirft, ohne dass man eine | |
Alternative zu ihr in der Tasche hätte. Dann ein Verfahren wählen, das dazu | |
führt, dass die zweitgrößte Regierungspartei ein halbes Jahr führungslos | |
trudelt. Eine absurde Urwahl herbeiführen, bei der sich Pärchen aufstellen | |
lassen müssen. | |
Es hinbekommen, dass sich eigentlich keine zwingenden Kandidaten finden | |
lassen, aber das Prozedere so wählen, dass man mit knapp 10 Prozent | |
Mitgliederzuspruch in die Stichwahl kommt. Am Ende dieses zermürbenden | |
Prozesses zwei Alternativpärchen haben, bei denen es wohl vielen | |
Parteimitgliedern schwerfiel, für sich zu entscheiden, welches sie für | |
weniger schlecht halten. Und schlussendlich zwar eine Entscheidung haben, | |
aber auch eine noch zerrissenere Partei. | |
Eines ist sicher positiv: Die Parteimitglieder haben für einen radikalen | |
Wandel gestimmt. Nicht länger das System verwaltende Staatspartei sein, | |
sondern in Opposition zu den Verhältnissen. Wieder irgendwie | |
Veränderungspartei und mit Leuten vorne, die vielleicht glaubwürdig | |
verkörpern können, dass sie authentische Fürsprecher der einfachen Leute | |
sind und nicht ein Leben in den Politzirkeln der Machteliten hinter sich | |
haben. | |
Dass für diese Linie nur ein Kandidat*innenpärchen zur Verfügung stand, | |
das den Eindruck erweckte, sich e[1][her irrtümlich auf die nationale | |
Hauptbühne] verirrt zu haben, ist der Wermutstropfen dieser Operation. | |
Parteianführer in der Mediendemokratie müssen doch auch Star-Talente haben, | |
sie sollten mitreißende Redner sein, irgendetwas ausstrahlen, was eine | |
Zukunftshoffnung weckt. Charaktermerkmale, über die der siegreiche Mann und | |
die siegreiche Frau bisher jedenfalls nur in homöopathischen Dosen | |
verfügen. | |
## Mehr Sicherheit für die Verwundbarsten | |
Eines ist sicher nicht die zentrale Frage für die Zukunft der SPD: wie | |
welche Person jetzt zur [2][Frage der Groko] steht. Sondern: Gelingt es, | |
wieder eine gewinnende Identität der Sozialdemokraten zu entwickeln, sodass | |
man als Vertretung der normalen Leute angesehen wird und in der Lage ist, | |
Wahlen zu gewinnen? Dazu gehören sicherlich eine Reihe von Inhalten: | |
Bekämpfung des Billiglohnsektors, Reparatur der Hartz-Agenda, Investition | |
in die Infrastruktur und Abkehr vom Dogma der schwarzen Null, Unterstützung | |
von Gemeinden, so dass ins Leben der verwundbarsten Teile der Bevölkerung | |
wieder etwas mehr Sicherheit zurückkehrt, und vieles mehr. Aber in der | |
Politik kommt es nicht nur darauf an, was man tut, sondern auch darauf, was | |
man ausstrahlt. Davon wird etwa abhängen, ob man als „Kleine-Leute-SPD“ | |
glaubwürdig wahrgenommen wird. | |
Aber damit wäre es auch noch lange nicht getan. Die Mitte-links-Parteien | |
haben immer nur dann gewinnen können, wenn sie auch Optimismus ausstrahlen, | |
eine Zukunftszuversicht, und wenn sie für die progressiven urbanen | |
Mittelschichten wählbar sind. Dafür braucht es Optimismus und Schwung und | |
Leute, die nicht nur Worthülsen von sich geben. Und sich auch etwas trauen | |
und Hoffnung nähren. Natürlich kann all das eine SPD unter der Führung von | |
Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken schaffen. Aber die Betonung liegt | |
auf dem „kann“. Das Experiment hat erst begonnen. | |
Für alle Beteiligten beginnt jetzt eine heikle Reise. Die Wahl des | |
„Rebellenpärchens“ hat einen tiefen Riss in der Partei sichtbar gemacht. Da | |
wurde voller Abscheu über das „Partei-Establishment“ gesprochen. Es gibt | |
eine große Entfremdung zwischen den normalen Parteimitgliedern und jenen, | |
die als die „Berufspolitiker“ in Berlin, in Ministerien, aber auch | |
Bundestag und Willy-Brandt-Haus wahrgenommen werden. Von der neuen | |
Parteiführung wird eine Revolution erwartet. Aber zugleich muss sie die | |
Partei auch versöhnen. [3][Walter-Borjans und Esken] müssen mit dem Apparat | |
der Partei arbeiten, der besteht ja auch aus großartigen, anständigen | |
Leuten und nicht in erster Linie aus düsteren Rasputins. | |
## Langfristigen Zwist vermeiden | |
Aber wie kriegt man eine zaghafte Revolution hin, markant und doch mit | |
Fingerspitzengefühl? Zugleich müssen die beiden Neo-Vorsitzenden auch die | |
bisherigen Granden in der Partei auf ihre Seite ziehen, und zwar nicht nur, | |
weil diese den zwei Novizen sonst eine Falle nach der anderen stellen | |
würden. Sondern auch, weil eine Partei langfristigen Zwist nicht brauchen | |
kann. | |
Auch die, die jetzt unterlegen sind, dürfen nicht als Geschlagene und | |
Gedemütigte vom Platz gehen. Zumal das Ergebnis ja kein Erdrutsch war – es | |
ging ja mehr oder weniger 50:50 aus. Auch Olaf Scholz wird, wenn er seinen | |
Kater ausgeschlafen hat, sehen: Das Ergebnis ist ein Mandat für die | |
Gewinner, die Partei zu führen, aber auch ein Mandat für ihn, an Bord zu | |
bleiben. | |
Es wird vom Führungsgeschick der beiden neuen SPD-Vorsitzenden abhängen, ob | |
eine Operation gelingen kann, die dem Zeichnen eines viereckigen Kreises | |
nahe kommt. Die neue Spitze darf ja auch die Hoffnungen auf eine radikale | |
Revolution nicht verraten, kann zugleich aber die Partei nicht gegen die | |
Mehrheit der bisherigen Funktionsträger führen. | |
All das wird nicht einfach. Aber die Parteien der Arbeiterbewegung wurden | |
vor 150 Jahren auch nicht gegründet, um es einfach zu haben. | |
3 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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