| # taz.de -- Bußgeld für Oranienplatz-Aktivisten: „Wir müssten dankbar sein… | |
| > Der Leiter der psychotherapeutischen Beratungsstelle Xenion erklärt, | |
| > warum er 300 Euro „Spende“ von einem Flüchtling mit gemischten Gefühlen | |
| > annimmt. | |
| Bild: Ein Anwohner des Flüchtlingscamps am Oranienplatz im Januar 2014 | |
| taz: Herr Koch, Xenion, die Berliner Beratungsstelle für traumatisierte | |
| Flüchtlinge, [1][bekommt 300 Euro, die der Oranienplatz-Aktivist Adam Bahar | |
| wegen Widerstands gegen Polizisten bezahlen muss]. Warum ist das für Sie | |
| ein Problem? | |
| Dietrich Koch: Wir sind einerseits natürlich dankbar, dass das Geld als | |
| Spende an uns geht. Andererseits ist das Bußgeld in meinen Augen eine | |
| ungerechtfertigte Bestrafung und darum eine zwiespältige Sache für uns. | |
| Warum ungerechtfertigt? | |
| Wir von Xenion kennen Adam, ich habe ihn durch sein Asylverfahren | |
| begleitet. Ich kenne auch sein politisches Engagement, etwa beim | |
| Seenottelefon für Boatpeople im Mittelmeer. Und ich bin ihm persönlich | |
| dankbar, weil er mir die Augen geöffnet hat bezüglich des ganzen Ausmaßes | |
| der sogenannten Flüchtlingskrise. Auch was den Oranienplatz anbelangt, ist | |
| er sehr aktiv, hat dafür gesorgt, dass die Bewegung nicht eingeschlafen | |
| ist, was viele nach der Räumung des Camps befürchtet hatten. Eigentlich hat | |
| er eine Auszeichnung verdient und kein Bußgeld! | |
| Ist die Bewegung denn nicht eingeschlafen? | |
| Vielleicht im öffentlichen Bewusstsein. Aber wir haben immer noch Männer | |
| von der Oplatz-Bewegung in Behandlung und Beratung, deren Verfahren nicht | |
| in trockenen Tüchern sind, die keinen geregelten Aufenthalt haben, sich von | |
| Duldung zu Duldung hangeln. Diese Menschen sind so verzweifelt und stehen | |
| derart mit dem Rücken an der Wand, dass ich denke, das müsste nochmal | |
| aufgerollt werden! Und es kommen ja auch immer wieder Flüchtlinge nach, die | |
| dieselben Probleme haben. Es hat sich ja nichts zum Positiven geändert, nur | |
| weil das Camp abgebaut wurde. | |
| Sie sagten, Baher habe Ihnen die Augen geöffnet. Wie meinen Sie das? | |
| Ich habe ihn kennengelernt in der Zeit um 2013, wo die vielen Toten im | |
| Mittelmeer zu beklagen waren. Wir hatten bei Xenion jeden Tag mit Menschen | |
| zu tun, die Angehörige verloren hatten, ihre eigenen Kinder, die ertrunken | |
| waren. Und wir haben damals nicht gehört, dass sich die Öffentlichkeit | |
| darüber empört hätte, was mich ziemlich demotiviert hat. In dieser Zeit | |
| kamen die Leute vom Oranienplatz und sagten: Wir sind hier – und irgendwann | |
| müsst ihr mit uns sprechen. Da ging mir das Herz auf! Ich habe mich | |
| anstecken lassen von diesem „Wir schaffen das“, wir ändern etwas in | |
| Deutschland. Da bin ich wieder jung geworden und habe mich erinnert an die | |
| Ideale, mit denen ich mal an die Arbeit gegangen bin. | |
| Auch wenn die Oranienplatz-Bewegung ja nicht wirklich etwas erreicht hat, | |
| oder? | |
| Nicht das, was wir uns erhofft hatten vielleicht. Aber wir müssen immer | |
| wieder unsere kleinen Hoffnungen neu aufbauen, auch wenn die Politik die | |
| Lage der Geflüchteten tendenziell eher verschlimmert hat in den 30 Jahren, | |
| die ich überblicke. Und die Flüchtlinge haben uns deutlich gesagt, dass wir | |
| in Europa etwas ändern müssen. Wir müssen sie anders angucken – nicht als | |
| Menschen, die uns etwas wegnehmen, sondern als Menschen, die uns etwas | |
| bringen und gebraucht werden. Denn diese Menschen wollen ja wirklich etwas | |
| aufbauen, sie sind bereit, viele Opfer zu bringen, um hier ein neues Leben | |
| anzufangen. Und so arbeiten sie am Reichtum dieser Gesellschaft mit, wenn | |
| wir ihnen eine Chance dazu geben. | |
| Wir brauchen die Geflüchteten also als Arbeitskräfte? | |
| Das ist die eine Sache. Wir brauchen sie aber vor allem auch, um aus dieser | |
| Entsolidarisierung herauszukommen, die in unserer Gesellschaft grassiert, | |
| wo jeder alles hat und niemanden mehr braucht. Viele haben ja durch die | |
| Ehrenamtsarbeit mit Flüchtlingen, die unsere Hilfe brauchen, wieder Sinn | |
| erfahren durch das Gefühl, gebraucht zu werden. Insofern sind solche | |
| wechselseitig unterstützenden Begegnungen eine Art Heilmittel für unsere | |
| größten Zivilisationskrankheiten: die Entsolidarisierung, der Hass und die | |
| gegenseitige Entfremdung. Wir müssen ihnen eigentlich dankbar sein für | |
| dieses Geschenk. | |
| 27 Nov 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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