# taz.de -- Wahlkampf in Großbritannien: Tories auf Arbeiterstimmenfang | |
> Dudley North ist ein Labour-Wahlkreis, den Boris Johnson gewinnen muss. | |
> Den früheren Labour-Abgeordneten hat er schon überzeugt. Wie kann das | |
> sein? | |
Bild: Kay Ellis in ihrer Imbissstube. Sie wählt liberaldemokratisch | |
DUDLEY taz | Das Stadtzentrum wirkt ausgelaugt. Wettbüros, Secondhandläden | |
und „Cash Converter“ – Gebrauchtwarenhändler, die Bargeld für Gegenstä… | |
zahlen – reihen sich an leer stehende Geschäfte und Bürohäuser mit | |
zerschlagenen Fenstern. Es gibt nicht einmal mal mehr Restaurants, sondern | |
nur noch Fastfood. Am Abend tummeln sich Jugendgruppen, Betrunkene und | |
Junkies neben den neu hergerichteten Marktständen. | |
Das ist Dudley, eine alte Industriestadt mit 80.000 Einwohnern im Herzen | |
Englands, einst ein Zentrum des Kohlebergbaus und der Stahlindustrie und | |
traditionell eine Labour-Hochburg. Wenn Boris Johnson die Wahlen gewinnen | |
will, müssen die Konservativen in den Arbeitermilieus der „West Midlands“ | |
Stimmen gewinnen und Wahlkreise wie Dudley North holen. | |
[1][Über 71 Prozent stimmten hier beim Referendum 2016 für den Brexit.] Bei | |
den Wahlen 2017 schrumpfte die Labour-Mehrheit auf ganze 22 Stimmen. Der | |
damalige Labour-Abgeordnete Ian Austin [2][verließ vergangenes Jahr seine | |
Partei], weil Parteichef Jeremy Corbyn sich mit „Extremisten und | |
Antisemiten“ assoziiere, und ruft heute zur Wahl der Konservativen auf. | |
Deren Kandidat Marco Longhi, bisher Bürgermeister der Nachbarstadt Walsall, | |
hat gute Chancen, da der Kandidat der Brexit Party von der Wahl | |
zurückgetreten ist – die neue Labourkandidatin Melanie Dudley, eine | |
ehemalige Stadträtin, muss sich aber nicht nur gegen die Konservativen | |
behaupten, sondern auch gegen Grüne und Liberaldemokraten. | |
## Jeremy Corbyn? Bloß nicht | |
Ladengehilfin Hazel Round, 70, und ihr Ehemann Ivor, 72, ein ehemaliger | |
Bauarbeiter, beides Rentner und Labour-Stammwähler, wollen nicht mehr | |
Labour wählen, solange Jeremy Corbyn im Amt ist. Sie bezeichnen im Gespräch | |
auf dem Marktplatz den Labour-Chef als „Kommunisten, der angab, das | |
Referendum zu respektieren, und dann in den Brexit-Abstimmungen die ganze | |
Zeit gegen die Konservativen stimmte“. | |
Der Brexit müsse „die unkontrollierte Einwanderung beenden“, finden sie, | |
denn „die nehmen Geringverdienern die Arbeit weg“. Außerdem verliere das | |
Land seinen christlichen Charakter, behauptet Ivor. Dabei sind die | |
Zuwanderer aus Osteuropa, über die er sich beschwert, nahezu ausschließlich | |
Christen, oft religiöser als die EngländerInnen. | |
Aber selbst der 57-jährige Maschinenbauer Jack Chamber, Kind indischer | |
MigrantInnen, der im Industriegebiet am Stadtrand mit einem Gabelstapler | |
schwere Eisenteile in eine Schutthalde lädt, schwört, dass einige | |
OsteuropäerInnen bloß gekommen seien, um hier von Sozialhilfe zu leben, | |
denn anders als seine Eltern bräuchten sie als EU-Bürger keine | |
Arbeitserlaubnis. Auch er will konservativ wählen. | |
## „Es sind die Engländer, die nicht arbeiten“ | |
Solche Stimmen sind typisch, aber Dudley ist politisch vielfältig, wie die | |
gesamte Region. Kay Ellis, 52, Besitzerin eines Cafés im Industriepark, hat | |
2016 für den Verbleib in der EU gestimmt, und „ich werde zum ersten Mal in | |
meinem Leben für die Liberaldemokraten stimmen“, verkündet sie. Deren | |
Politik – sie treten als einzige der großen Parteien klar für den | |
EU-Verbleib ein – sei „klarer, rationeller und logischer“. Was andere üb… | |
Einwanderer behaupten, sei Schwachsinn, denn „nebenan arbeiten Rumänen und | |
Litauer hart“. | |
Es gibt auch noch Labour-Wähler. Statt die Schuld auf Europa zu schieben, | |
solle die Regierung lieber in Gegenden wie Dudley investieren, findet der | |
64-jährige Imbissverkäufer Ahmed Razak aus Lahore in Pakistan, seit 42 | |
Jahren mit einer Engländerin verheiratet, wie er betont. | |
Für Labour will auch die 50-jährige Dope Dagban aus Togo stimmen, die einen | |
Laden mit afrikanischen Lebensmitteln führt. „Meiner Meinung nach sind es | |
die hiesigen Engländer, die nicht arbeiten und die von Sozialhilfe leben, | |
nicht die Migranten“, sagt sie. Trotz einiger Rassisten sei Dudley ruhig, | |
„ideal für meine drei Kinder“. | |
Dudley könnte mehr aus sich und seiner Stadtgeschichte machen, meint | |
schließlich Jonathan Holden, dessen Familie seit 1915 die gleichnamige | |
Bierbrauerei betreibt. Er spricht über die Sehenswürdigkeiten der Stadt, | |
das Freilichtmuseum, die Burgruine auf dem Hügel, den Tierpark; über neue | |
Biersorten und eigene Renovierungspläne. Aber dazu müsse die bisherige | |
Unentschiedenheit zum Brexit endlich ein Ende haben. | |
„Boris“, sagt Holden und meint den Premierminister, „wird den Willen des | |
Volkes umsetzen, die Sache erledigen und Stabilität bringen.“ Doch Brexit | |
sei auch nicht alles. Genauso argumentieren im Wahlkampf die | |
Konservativen. | |
19 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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