| # taz.de -- Wahlkampf in Großbritannien: Es kommt ein harter Winter | |
| > Das britische Parlament beschließt Neuwahlen. Es droht eine wochenlange | |
| > Polarisierung. Was das für den Brexit bedeutet, ist offen. | |
| Bild: „Unsinn“, schimpft Corbyn. „Übergeschnappt“, kontert Johnson | |
| Berlin taz | Es war typisch für das britische Parlament, dass es Boris | |
| Johnson in dem Moment eine Zweidrittelmehrheit gab, als er sie nicht mehr | |
| brauchte. Mit 438 zu 20 Stimmen beschlossen die Abgeordneten [1][am späten | |
| Dienstagabend] Neuwahlen am 12. Dezember. Bisherige Neuwahlanträge, die | |
| nicht als Gesetz formuliert waren und daher die Zweidrittelmehrheit von 434 | |
| Stimmen benötigt hätten, waren alle [2][durchgefallen]. | |
| In beispielloser Einmütigkeit geht nun ein Parlament auseinander, in dem | |
| keine Partei eine Mehrheit hat, das in den letzten Monaten immer | |
| beschlussunfähiger wurde und das Umfragen zufolge 87 Prozent der Wähler als | |
| unfähig betrachten. Ein Zeitungskolumnist beschrieb das Unterhaus als | |
| Komapatient unter künstlicher Beatmung, bei dem niemand weiß, wo man ihn | |
| abschaltet. | |
| Der Schalter ist nun gefunden. Am Mittwoch, 6. November, um 0.01 Uhr endet | |
| diese Legislaturperiode. Schon am 31. Oktober endet die Amtszeit des | |
| legendären „Speaker“ John Bercow. Ihm zollte Boris Johnson am Mittwoch | |
| Tribut, indem er ihn mit einem Tennis-Schiedsrichter verglich, der immer | |
| wieder selbst Bälle schlägt, die man nicht zurückschlagen darf, „eine | |
| unkontrollierbare Tennisballmaschine“. | |
| Nun wird ein Wahlkampf folgen, den Großbritannien seit Jahrzehnten so nicht | |
| gesehen hat: im Winter mit immer kürzeren Tagen und voraussichtlich immer | |
| schlechterem Wetter, mit einem Wahltag mitten in der Weihnachtsfeiersaison | |
| – in einer Zeit extremer Polarisierung, in der einer universitären | |
| Untersuchung zufolge die Mehrheit sowohl der Brexit-Gegner als auch der | |
| Brexit-Freunde Gewalt gegen Abgeordnete für legitim hält. | |
| ## Wahlkreiskandidaten im Dunklen | |
| Der klassische britische Haustürwahlkampf, in dem die Wahlkreiskandidaten | |
| an möglichst viele Türen klopfen und das direkte Gespräch mit dem Volk | |
| suchen, dürfte wenig attraktiv sein, wenn es fast immer dunkel ist, niemand | |
| die Haustür gerne lange offen stehen lässt und man damit rechnen muss, dass | |
| das Wahlvolk einem ins Gesicht spuckt. | |
| Zu erwarten ist eine beispiellose Verlagerung des Wahlkampfs auf soziale | |
| Medien, was nach US-Erfahrung bedeutet, dass jedes Lager vorzugsweise die | |
| eigene Basis mobilisiert. Womit, darauf bot am Mittwoch Boris Johnsons | |
| letzte Fragestunde im Parlament einen Vorgeschmack. Jeremy Corbyn widmete | |
| seine sechs Fragen alle dem staatlichen Gesundheitsdienst NHS, der Brexit | |
| kam nicht vor. | |
| Der Labour-Chef sprach faktenfrei von einem „Ausverkauf an Donald Trump“. | |
| Johnson warf Corbyn „Amerikaphobie“ vor. Corbyn rief: „Der Premierminister | |
| redet Unsinn.“ Johnson brüllte, Corbyn sei „übergeschnappt“. Das kann j… | |
| sechs Wochen so weitergehen. | |
| ## Auch 2017 verspielten die Tories einen Vorsprung | |
| Der Ausgang ist offener als es aussieht. Im Schnitt der aktuellen Umfragen | |
| führen die Konservativen klar mit 35 Prozent, Labour kommt auf 25, die | |
| Liberaldemokraten auf 18 und die „Brexit Party“ auf 11 Prozent. Das, so | |
| Experten, ergibt eine satte absolute Tory-Mehrheit der Unterhausmandate. | |
| Aber der Wahlkampf 2017 begann mit einem noch größeren Tory-Vorsprung. Am | |
| Ende hatte Corbyn so weit aufgeholt, dass Theresa May trotz Zuwachs von 36 | |
| auf 42 Prozent ihre absolute Mehrheit einbüßte. | |
| Diesmal ist Corbyn nicht mehr der frische Hoffnungsträger, sondern ein | |
| überforderter Taktiker. Die Liberaldemokraten auf der Pro-EU-Seite werden | |
| ihn mit Brexit-Eindeutigkeit vor sich hertreiben – und spiegelbildlich wird | |
| das bei den Konservativen Nigel Farages [3][Brexit Party] tun, die im Mai | |
| die britischen Europawahlen gewann. Die beiden kleinen Kräfte brauchen gar | |
| nicht viele eigene Mandate zu holen, um trotzdem Hunderten von | |
| Parlamentariern das politische Überleben schwer zu machen. | |
| Dagegen werden Johnson und Corbyn versuchen, ihre jeweilige Basis bei der | |
| Stange zu halten. Es droht ein Dauertrommelfeuer zweier Extreme, | |
| organisiert auf konservativer Seite von der Johnson-geführten | |
| Brexit-Referendumskampagne „Vote Leave“ und auf Labour-Seite von der | |
| Corbyn-Fankampagne „Momentum“. | |
| Welches Erfolgsrezept wird funktionieren? Bei den letzten beiden Wahlen | |
| hatte jeweils die Hälfte der Wähler eine andere Partei gewählt als vorher. | |
| Die Briten sind Wechselwähler geworden. Alte Loyalitäten zählen kaum noch | |
| in einer Zeit, wo alle Parteiführer sich vor allem in Abgrenzung zu ihren | |
| eigenen Vorgängern definieren. | |
| 30 Oct 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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