# taz.de -- Großbritanniens Torys wählen Premier: Machtwechsel in Zeitlupe | |
> Boris Johnson oder Jeremy Hunt? Großbritanniens Konservative entscheiden | |
> über den nächsten Premier. Johnson hat die Nase vorn. | |
Bild: Der Politclown: Boris Johnson profitiert davon, dass er schon immer für … | |
LONDON/BIRMINGHAM taz | Die Südlondoner Straße, an der Boris Johnson bis | |
vor Kurzem wohnte, liegt an einem verwunschenen Park und doch in einer | |
Schmuddelecke. Brunswick Park im Stadtteil Camberwell ist eine gepflegte | |
kleine Grünanlage abseits des Trubels, mit schlängelnden Pfaden unter | |
ausladenden Bäumen. Vor Jahren lebte dort ein weißes Eichhörnchen, dem die | |
Anwohner den Namen „Boris“ gaben, wie der Name des blondesten Politikers | |
des Vereinigten Königreichs. Dieses Jahr zog Boris Johnson selbst an den | |
Park, zu seiner neuen Freundin, der ebenfalls blonden Carrie Symonds, erst | |
31 Jahre alt und schon eine ehemalige PR-Chefin der britischen | |
Konservativen. Da war es mit der Ruhe vorbei. | |
Camberwell ist kein konservatives Pflaster. Es ist eine der wenigen Ecken | |
Londons, wo neben Szenerestaurants auch noch versiffte Ladenfassaden | |
unrenovierte Hauptstraßen säumen. Im Zeitungsladen kann man Geld nach | |
Somalia schicken, an der Bushaltestelle vor der Power Church schiebt eine | |
afrikanische Mama mit dem Körperbau eines Sumōringers ihren Kinderwagen mit | |
zwei Fingern hin und her wie ein Spielzeugauto. Ein paar Ecken weg von den | |
Hauptstraßen landet man entweder im Sozialghetto oder in stillen Paradiesen | |
mit alten Stadthäusern im Grünen, soliden Gebäuden mit Patina, bei denen | |
nur die geparkten Autos den Wohlstand ihrer Bewohner verraten. | |
In einem dieser vierstöckigen Stadthäuser am Park, die wie überall in | |
London längst in teure Wohnungen unterteilt worden sind, rief ein Pärchen | |
in der Nacht zum 21. Juni die Polizei. In der Nachbarwohnung stritt sich | |
nämlich Boris Johnson, gerade 55 geworden, laut mit seiner Freundin. „Geh | |
weg von mir!“ und „Raus aus meiner Wohnung!“, soll sie gebrüllt haben, a… | |
ein Disput über verschütteten Rotwein auf dem Sofa eskalierte. Die Polizei | |
stellte fest, dass nichts Besonderes los gewesen sei. | |
Die Nachbarn, verwurzelt in der linken Kulturszene von Camberwell, hatten | |
aber alles aufgezeichnet und steckten die Aufnahme dem Guardian. | |
Großbritanniens linksliberale Tageszeitung machte daraus eine | |
Exklusivgeschichte, die den Favoriten auf das Amt des britischen | |
Premierministers ins Wanken brachte. | |
## 160.000 Parteimitglieder entscheiden | |
Großbritannien erlebt derzeit einen Machtwechsel in Zeitlupe. | |
Premierministerin Theresa May hat am 24. Mai ihren Rücktritt erklärt, aber | |
einen Nachfolger gibt es erst zwei Monate später. Erkoren wird dieser durch | |
eine Urwahl bei den regierenden Konservativen. Aus einer Unmenge von | |
Anwärtern haben die Abgeordneten zwei ausgesiebt: Boris Johnson und Jeremy | |
Hunt, den Brexit-Helden und seinen Nachfolger als Außenminister. Die beiden | |
tingeln nun durch das Land und werben um die rund 160.000 Parteimitglieder. | |
An diesem Wochenende landeten die Wahlzettel in deren Briefkästen. | |
Johnson gegen Hunt – das ist ein Wahlkampf der Gegensätze. Der Favorit und | |
der Last-minute-Gegenspieler. Der Volksliebling gegen den Mann des | |
Apparats. Der Klassenclown, der immer einen Spruch parat hat, und der | |
Streber, der für jedes Problem eine Lösung weiß. Der ewige Chaot, den alle | |
Welt beim Vornamen nennt, und der ewige Minister, den auch nach neun Jahren | |
im Kabinettsrang kaum jemand kennt. Das weiße Eichhörnchen gegen die graue | |
Maus. | |
„Hunt ist ein Smoothie“, äußert beim Kneipengespräch im Regierungsviertel | |
ein weißhaariger Provinzpolitiker. „Boris ist eine Wild Card. Vielleicht | |
brauchen wir ja so was.“ | |
Es ist auch ein Wahlkampf der Ähnlichkeiten. Johnson und Hunt haben beide | |
Eliteschulen besucht – Eton und Charterhouse – und schwammen schon als | |
Schüler ganz oben. Sie studierten am selben Oxforder College; Johnson | |
leitete den Debattierclub „Oxford Union“, ein traditionelles konservatives | |
Sprungbrett zum Amt des Premierministers, Hunt den konservativen | |
Studentenverband, unscheinbarer aber effektiver, wie heute. Im Wahlkampf | |
sind ihre Positionen nahezu identisch, was das Hauptthema Brexit angeht: | |
Neuverhandlungen mit der EU, parallel dazu Vorbereitung auf einen | |
No-Deal-Brexit, notfalls mit Sonderhaushalten und Notverordnungen, Austritt | |
aus der EU am 31. Oktober mit oder ohne Deal. | |
Für beide geht es um viel mehr als sie selbst. Ihre Partei liegt nach drei | |
Jahren Theresa May am Boden: 42 Prozent bei den Parlamentswahlen 2017, nur | |
noch 9 Prozent bei der Europawahl 2019, der Rest wanderte größtenteils zu | |
Nigel Farages Brexit Party. Großbritannien ist drei Jahre nach dem | |
Brexit-Votum politisch polarisiert. | |
Ein Lager will um jeden Preis den EU-Austritt vollzogen sehen. Das andere | |
will ihn um jeden Preis verhindern. Für diese beiden Positionen stehen | |
Brexit Party und Liberaldemokraten, aber sie gelten als politische | |
Außenseiter. Die Macht liegt bei den Konservativen und Labour, aber die | |
erscheinen in ihren eigenen Widersprüchen gefangen. „Der Brexit | |
überschattet und lähmt alles“, erläutert eine pensionierte | |
Regierungsbeamtin. „Ihn zu lösen schließt alle Türen auf.“ | |
Das ist Boris Johnsons Chance. Er präsentiert sich als Lösung – Jeremy Hunt | |
verkörpere das Problem. Denn Hunt warb 2016 für den EU-Verbleib, Johnson | |
führte die Austrittskampagne. Wenn beide Kandidaten jetzt auf den Brexit | |
mit oder ohne Deal pochen, ist das bei Johnson konsequent, bei Hunt | |
unglaubwürdig. Johnson trifft gekonnt den wunden Punkt der Tories: Brexit | |
Party und Liberaldemokraten, sagt er auf einer Parteiversammlung, seien | |
„zwei Schimmelpilze“, die „auf dem modrigen Unterholz des Misstrauens“ | |
gediehen, und nun werde er sie zurückdrängen. | |
Boris Johnson gehört zum liberalen Flügel der Konservativen. Er ist weder | |
Nationalist noch Populist, sondern ein Laisser-faire-Libertärer. Er setzt | |
auf Stimmung statt auf Details, er sieht sich als natürlicher Chef, der | |
sich nicht anstrengen muss – anders als Hunt, dem man die Anstrengung | |
ansieht. Es gibt aber auch viele Vorbehalte gegen Johnson. Er hält sich | |
über seine konkreten Pläne bedeckt. Jeder projiziert alles in ihn hinein. | |
Er gilt als selbstverliebt und unzuverlässig. Im parteiinternen Wahlkampf | |
wird gestreut, dass sogar die Sicherheitsdienste ihm nicht vertrauten. Ein | |
Insider in diesen Fragen bestätigt, „in der Abwägung“ sei man für Hunt. … | |
der Abwägung“ ist Code für: alternativlos. | |
## Die durchwachsene Bilanz des Populisten Johnson | |
Boris Johnsons stärkstes Argument ist sein eigener Erfolg. Zweimal wurde er | |
direkt als Londoner Oberbürgermeister gewählt, als Konservativer in einer | |
linken Stadt. In seiner Amtszeit 2008 bis 2016 strömten | |
Millliardeninvestitionen hinein, die Olympischen Sommerspiele 2012 | |
verbreiteten Optimismus, für Technologiekonzerne und Start-ups wurde London | |
weltweit die Nummer eins. Die Kriminalität nahm ab, der Wohlstand stieg, | |
ehemalige No-Go-Slums wurden begehrte Wohngegenden. | |
Aber zugleich schossen die Immobilienpreise in unerschwingliche Höhen. | |
Jedes Jahr wandern 300.000 Menschen aus der Stadt aus, auf der Suche nach | |
Wohnraum und Ruhe. An ihre Stelle rücken noch mehr Zuwanderer aus aller | |
Welt. London ist eine Weltstadt geworden, die dem Rest des Landes den | |
Rücken kehrt. Für viele Engländer ist die Fahrt in die Hauptstadt heute | |
eine Reise in ein fremdes Land, teuer, hektisch und drängelig. Und seit dem | |
Brexit-Votum stagnieren oder sinken die Immobilienpreise – dadurch sitzen | |
viele Londoner in der Schuldenfalle. Im London von heute ist Boris Johnson | |
eine Hassfigur. Der Rest Englands aber sieht in London kein Vorbild. | |
So birgt Johnsons Stärke eine Schwäche. Genau darauf stellen sich die | |
beiden „Schimmelpilze“ Brexit Party und Liberaldemokraten ein. Denn nicht | |
nur sie rechnen damit, dass ein Premierminister Johnson ohne sichere | |
Mehrheit im Parlament nicht fest im Sattel sitzen wird. | |
## Die Konkurrenz außerhalb der Partei wartet schon | |
Den Startschuss zum Vorwahlkampf einer möglichen Parlamentswahl gibt Nigel | |
Farage in Birmingham, Englands zweitgrößter Stadt, das Anti-London | |
schlechthin, hässlich, uncharismatisch. Die Brexit Party sammelt sich dort, | |
wo sogar Birmingham am charakterlosesten ist, im Messezentrum am Flughafen, | |
einem Labyrinth aus Großhallen, verbunden durch endlose weiße Gänge. | |
Sicherheitsleute schlurfen gelangweilt herum. Auf einem verstimmten grünen | |
Klavier in einer Ruhezone spielt jemand „Clair de Lune“. | |
Die riesige schwarze Halle 9 ist auch mit 5.000 überzeugten Brexiteers | |
nicht wirklich voll. Aber die Stimmung ist gut, es gibt Bier und Musik, ein | |
Spaßvogel mit Jeremy-Corbyn-Maske albert herum und stolpert prompt über | |
eine Treppe – die Medien sind gerade voll davon, dass der Labour-Chef | |
physisch und geistig abbaue. Das Publikum ist ein Querschnitt der | |
englischen Provinz, heitere ehrliche Gesichter beim Sonntagsausflug. | |
Niemand drängelt, niemand schimpft. | |
Über 100 frische Parlamentskandidaten nehmen auf dem Podium Platz – | |
Unternehmer, Ingenieure, Gabelstaplerfahrer, wie es heißt, und Gesichter | |
aller Ethnien und Altersgruppen. Dann hält Farage Einzug wie ein Rockstar. | |
Die Saallichter werden gedämmt, das Publikum schwenkt türkisfarbene | |
Glühstengel und jubelt, als der Chef zu ohrenbetäubender Musik auf die | |
Bühne steigt, sein Grinsen anknipst und „Wooooowww!“ brüllt. | |
## „Das Land hat die Schnauze voll“ | |
Farage erinnert an Tony Blair zu dessen höchstfliegenden Zeiten: der Chef | |
als zupackender Visionär, der alles neu machen will. Er ist der erste | |
Parteichef seit Blair vor über zwanzig Jahren, der vollmunding von einer | |
„neuen Politik“ für Großbritannien spricht. „Das Land hat die Schnauze | |
voll“, hebt er an. „Wir haben den Menschen Hoffnung gegeben! Wir sind | |
Optimisten! Wir glauben an Großbritannien!“ | |
Dankbar greift Nigel Farage Johnsons Bonmot von den „Schimmelpilzen“ auf, | |
grient und lässt das Publikum lachen. „Mister Johnson, du kannst es | |
versuchen, aber du kriegst uns nicht mehr zurück in die Kiste!“, ruft er | |
dann zu tosendem Applaus. „Boris, warum sollen wir dir trauen, wenn du | |
sagst, wir werden am 31. Oktober austreten, egal wie, und am nächsten Tag | |
sagst, die Chance auf einen No-Deal-Brexit steht bei eins zu einer Million? | |
Was denn nun?“ Nach einer Kunstpause schließlich: „Regel Nummer eins der | |
britischen Politik: Trau nie einem Tory.“ | |
Die Brexit Party will bei Neuwahlen landesweit kandidieren. Umrisse eines | |
Wahlprogramms werden gezeichnet: 200 Milliarden Pfund stehen angeblich zur | |
Verfügung, wenn kein Geld mehr an die EU fließt, der Entwicklungshilfe-Etat | |
halbiert wird und die überteuerte Hochgeschwindigkeitslinie zwischen London | |
und Birmingham aufgegeben wird. Dafür bekäme das ganze Land modernes | |
Internet, Unternehmen außerhalb Londons erhielten Steuererleichterungen, | |
die Zinslast beim Abstottern von Studiengebühren würde gestrichen. „Brexit | |
Booster Plan“ nennt die Partei das, eine Auffrischungsspritze für | |
vernachlässigte Landesteile. | |
Es ist explizit ein Anti-London-Programm. Farage wettert gegen die | |
„Londoner Eliten“ bei Konservativen und Labour: „London wird größer und | |
mächtiger, der Rest des Landes fühlt sich immer weiter zurückgelassen.“ Es | |
ist eine strategisch kluge Positionierung gegen die beiden Londoner Boris | |
Johnson und Jeremy Corbyn. | |
## Auch die liberalen Brexit-Gegner hoffen auf Rückenwind | |
Zwischen Birminghams düsterer Messehalle 9 und der Topadresse 1 Whitehall | |
Place im Londoner Regierungsviertel liegen Welten. Der verschnörkelte | |
Prachtbau mit Prunksälen und einem Garten voller Palmen ist Sitz des | |
National Liberal Club, Vereinsadresse der britischen Liberalen seit der | |
imperialen Ära des späten 19. Jahrhunderts. Die Liberalen sind heute viel | |
kleiner als damals und in das Gebäude hat ein Luxushotel Einzug gehalten, | |
aber das Filetstück ist immer noch Klubhaus mit livriertem Personal, | |
Terrassen zur Themse, geschwungenen Marmortreppen und einem vornehmen | |
Clubrestaurant, wo die Seezunge für umgerechnet 40 Euro ohne Beilage | |
gereicht wird. | |
Unter Kronleuchtern feiern Londons Liberaldemokraten an einem lauen | |
Sommerabend hier ihren neuesten Überläufer: Chuka Umunna, Abgeordneter für | |
den Südlondoner Wahlkreis Streatham, der Labour verließ, eine eigene Partei | |
gründen wollte, scheiterte und jetzt eine neue Heimat gefunden hat. Ihn | |
mustert nun die Crème de la crème einer politischen Kraft, die nach einem | |
bedauerlichen Jahrhundert Verdrängung durch Labour endlich Morgenluft | |
wittert und mit einem Anti-Brexit-Kurs ihren angestammten Platz als | |
Reformkraft des liberalen Bürgertums zurückerobern will. Die liberalen | |
Mienen sind selbstbewusst, Frisuren und Maßanzüge sitzen akkurat, so | |
manches Gesicht scheint direkt aus einem der Gemälde an den holzgetäfelten | |
Wänden herabgestiegen zu sein. Chuka Umunna, halb nigerianischer | |
Abstammung, ist mit Ausnahme eines Asiaten der einzige Nichtweiße, | |
natürlich abgesehen vom Servicepersonal. | |
Der Neuling schmeichelt sich ein. Er beschwört „Millionen politisch | |
heimatloser, fortschrittlich denkender Menschen in diesem Land“, und ruft: | |
„Ihr müsst nicht heimatlos sein.“ Das britische System des 20. Jahrhunderts | |
habe sich überlebt, die Zeit sei reif für eine Alternative jenseits der | |
Populisten von rechts und links. Den Brexit und dessen Verhinderung nennt | |
Umunna „das größte Thema unserer Zeit“. | |
Die Liberaldemokraten lieben solche Reden, die ihnen logisch darlegen, | |
warum sie wichtig sind – es beweist ihnen, dass die Realität, in der sie | |
keine Rolle spielen, unlogisch ist. Aber diesmal sehen sie tatsächlich | |
Chancen. In einer Umfrage nach der anderen liegen sie vor Labour. „Wir sind | |
die einzige Partei gegen Brexit, die die Regierung stellen kann“, heißt es. | |
Die Liberaldemokraten sind das Spiegelbild von Nigel Farage, der am Vortag | |
in Birmingham seine Partei als „radikalste politische Kraft, die das Land | |
in über einem Jahrhundert gesehen hat“, pries. | |
## Kommt es zum Clash des politischen Systems? | |
Zwei gegensätzliche Politkräfte lehren Konservative und Labour das Fürchten | |
– und ihre Diagnosen sind sich verblüffend ähnlich: Das politische System | |
funktioniere nicht, Jeremy Corbyn sei eine Null, Boris Johnson nicht | |
vertrauenswürdig, nur Klarheit beim Brexit zähle. Nigel Farage ist sich | |
sicher, dass ein Premierminister Johnson rasch ein Misstrauensvotum im | |
Parlament verlieren wird und dann Neuwahlen kommen. Chuka Umunna kann sich | |
vorstellen, dass Johnson sich mit einer zweiten Brexit-Volksabstimmung | |
retten will. | |
Aber was ist, wenn der Brexit gar nicht mehr so wichtig ist? Außerhalb der | |
politischen Blase hat der endlose Streit über Austritt oder Verbleib in der | |
EU seinen Schrecken verloren. In Umfragen zu den drängendsten politischen | |
Themen liegt der Brexit inzwischen weit hinten. Eine der ersten | |
Publikumsfragen an Chuka Umunna bei den Liberalen lautet: „Was ist | |
wichtiger: Brexit oder Klimawandel?“ Der Politprofi stutzt. | |
Die Straße hat ihr Urteil längst gefällt. Nicht die EU, sondern das Klima | |
elektrisiert London in diesem Sommer, in dem man froh ist, ein Stück | |
entfernt vom Kontinent mit seinen 45 Grad zu leben. „Extinction Rebellion“ | |
ist an die Stelle von „People’s Vote“ getreten. Die Pro- und | |
Anti-EU-Aktivisten, die seit Jahren vor dem Parlament ausharren, sind nur | |
noch eine müde Touristenattraktion. Kaum jemand nimmt Notiz von den roten | |
Transparenten, auf denen Respekt für den Volkswillen gefordert wird. | |
Hundert Meter weiter wehen riesige EU-Flaggen verlassen im Wind, ein paar | |
ergraute Figuren mit blau-gelben EU-Halstüchern laufen teilnahmslos herum | |
mit dem nach innen gekehrten Blick von Leuten, die sich im Besitz einer | |
höheren Weisheit wähnen. | |
Impulse gehen an diesem Tag von den Klimademonstranten aus, die in London | |
zusammengeströmt sind, um das Parlament zu belagern. „The Time Is Now“, | |
jetzt ist die Zeit gekommen, so lautet das Motto der Lobbyaktion für eine | |
neue Klimagesetzgebung. Lärmende Schulklassen, bärtige Öko-Aktivisten und | |
seriöse Kampagnenleiter sammeln sich in den Victoria-Gärten neben dem | |
Parlamentsgebäude. In Gruppengesprächen taucht immer wieder der Name Boris | |
Johnson auf – aber nicht als Schreckgespenst. | |
„Die Politiker haben den Klimawandel auf die Agenda gesetzt, weil das ihren | |
eigenen Ambitionen dient“, analysiert ein Kampagnenprofi aus Nordengland | |
im stahlblauen Anzug zufrieden vor seiner bunt bekleideten Gruppe. Aus | |
seiner Sicht ist Johnson vielleicht sogar der bessere Kandidat. „Boris hat | |
als Bürgermeister ein paar gute Dinge getan“, zählt er auf: Londons erste | |
städtische Mietfahrräder, ein zusammenhängendes Netz breiter blauer | |
Fahrradwege, Offenheit für Öko-Vordenker. Jetzt aber stehe er unter Druck | |
der Baulobby, die an Infrastrukturgroßprojekten festhalten will. Die | |
Wahrnehmung: Boris Johnson ist kein Überzeugungstäter. Er ist nicht | |
konsistent – er ist beeinflussbar. | |
Das kann man nutzen. Johnsons Lebensgefährtin Carrie Symonds leitet einen | |
Tierschutzbund, auf Twitter setzt sie sich gegen Walfang ein und gegen | |
Plastikmüll in den Ozeanen. Seit dem Rotweinstreit von Camberwell ist sie | |
abgetaucht. Ganz Kommunikationsprofi, streut sie Berichte über ihren | |
wachsenden Einfluss auf Boris Johnson. Dem hat die Camberwell-Episode nicht | |
weiter geschadet. In der letzten Umfrage an der konservativen Basis vor | |
Versenden der Briefwahlzettel liegt er bei 74 Prozent. | |
8 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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