# taz.de -- Brexit-Gegner in London: Jubel vor dem Parlament | |
> Die Brexit-Sondersitzung des britischen Unterhauses fiel zusammen mit | |
> einer Großdemo für ein zweites Referendum. | |
Bild: Gegen den Brexit, für bessere Politik: Richard Poole, Jess Havelock, Ali… | |
LONDON taz | Ein riesiger mobiler Bildschirm in Whitehall, der Hauptstraße | |
des Londoner Regierungsviertels, überträgt live die Sondersitzung des | |
Parlaments über [1][das neue Brexit-Abkommen], das Premierminister Boris | |
Johnson den Abgeordneten schmackhaft zu machen versucht. So etwas hat es | |
bisher nie gegeben. Bei der letzten Samstagssitzung des Unterhauses | |
anlässlich des Falkland-Krieges 1982 gab es diese Technik noch nicht. | |
Vor und hinter dem großen Monitor stehen dicht gedrängt die Aktivisten für | |
ein zweites Brexit-Referendum. Der Menschenauflauf ist so groß, dass sie es | |
nicht bis zum Platz vor dem Parlament schaffen. Hunderttausende, laut | |
einigen Veranstaltern sogar eine Million Menschen sind am Samstag dem | |
Aufruf der [2][Kampagne „Peoples Vote“] gefolgt. | |
Sie tragen Europafahnen, Europamützen, EU-T-Shirts und selbstgemachte | |
Banner. Auf gelben Aufklebern steht „Bollocks to Brexit“. Immer wieder wird | |
skandiert: „Was wollen wir? Eine Volksabstimmung! Wann? Jetzt!“ Kurz vor 15 | |
Uhr beginnt es zu regnen. | |
Einige wollen sich deswegen bereits auf den Heimweg machen, als plötzlich | |
spontaner Jubel und Applaus aufbraust, gleichzeitig gesittet und | |
allgegenwärtg, vergleichbar mit dem Applaus beim Tennisturnier in | |
Wimbledon. „Was ist geschehen?“, fragen viele. „Die haben gegen Boris | |
gestimmt!“ rufen andere. „Ja, Oliver Letwins Antrag, er kam durch!“ Der R… | |
„Peoples Vote, Peoples Vote!“ ertönt im Chor im inzwischen strömenden | |
Regen. | |
## Wort für Wort | |
[3][Mit 322 gegen 306 Stimmen] gaben die Unterhausabgeordneten Boris | |
Johnson nicht die erwartete Zustimmung zu seinem neuen Brexit-Deal, sondern | |
befürworteten einen Antrag des Hinterbänklers Oliver Letwin, über den neuen | |
Deal erst dann zu befinden, nachdem die gesamte begleitende Gesetzgebung | |
des „Brexit-Deals“ Wort für Wort behandelt und abgestimmt worden ist. | |
Die Behandlung eines Gesetzestextes kann sich lange hinziehen, und die | |
Regierung hat das nicht in der Hand. Es können dabei auch weiter | |
Änderungsanträge eingefügt werden, die dann wiederum an die EU zurückgehen | |
könnten, weil damit das Parlament den Deal schließlich verändert hätte. | |
Damit ist der von Johnson angesteuerte Austrittstermin 31. Oktober akut | |
gefährdet. Ein weiteres im September beschlossenes Gesetz fordert, dass im | |
Fall einer fehlenden parlamentarischen Zustimmung für einen Deal bis zum | |
Abend des Samstag 19. Oktober Johnson eine Verlängerung des | |
EU-Austrittsdatums bei der EU beantragen muss. | |
Ihr erstes Ziel – einen Brexit am 31. Oktober zu verhindern – haben die | |
Demonstranten dank Letwin also voraussichtlich erreicht. Auf der riesigen | |
Rednerbühne vor dem Parlament gibt es nun lauter zufriedene Gesichter. Hier | |
funktionieren auch die Lautsprecher. Weniger als eine halbe Stunde später | |
endet sogar der Regen. Und zur Überraschung aller erscheinen Politiker, die | |
gerade noch im Parlament bei der Abstimmung waren und auf der | |
Live-Übertragung zu sehen waren, auf der Rednertribüne. | |
## „Der Kampf muss weitergehen“ | |
Keir Starmer, Labours Schatten-Brexit-Minister, ist der erste. Im | |
dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd, ohne Krawatte, tritt er auf. „Wir haben | |
Johnson wieder geschlagen, und zwar mit einer Mehrheit von 16 Stimmen!“ | |
verkündet er, zur Begeisterung der Versammelten. | |
Trotz der merklichen Erleichterung warnt Starmer die | |
Peoples-Vote-Aktivisten, dass „der Kampf weitergehen“ müsse. Auch die ihm | |
folgenden Labourabgeordneten Emily Thornberry, Diane Abbott und John | |
McDonell unterstreichen dies und betonen, Labour sei nun als Partei für | |
eine zweite Volksabstimmung und Remain-Partei zu verstehen. Das war nicht | |
immer so, denn Labour-Führer Jeremy Corbyn sieht das anders. Und Corbyn | |
fehlt auch bei diesem Auftritt vor dem Parlament. | |
Stattdessen kommen die Fraktionschefs der Liberaldemokraten, der | |
schottischen Nationalpartei SNP und der Splitterpartei Change UK, aber auch | |
die konservative Rebellin Antoinette Sandbach. Am Ende der Veranstaltung | |
erscheint der 86-jährige Politveteran Michael Heseltine, der einst im | |
Kabinett Maragaret Thatchers diente, und wettert gegen den Brexit. „Die | |
Kosten werden die Ärmsten in der Gesellschaft tragen müssen“, sagt er und | |
ruft die Versammelten auf, weiter und aufrecht voranzuschreiten. | |
## Zum ersten Mal auf einer Demo | |
Aus der Ferne beobachten Stewart und Kathy Franklin die Ansprachen. Das | |
Ehepaar aus Dewsbury im nordenglischen West Yorkshire ist zum allerersten | |
Mal auf einer Demo. Stewart hat extra Plakate angefertigt, auf denen die | |
Mitglieder des Kabinetts als Akteure eines Horrorfilms gezeichnet sind. | |
„Uns gehört eine kleine Firma, die Erdnussbutter herstellt, und wir | |
exportieren unter anderem nach Italien. Brexit wird unseren Handel | |
erschweren“, sagt Stewart. Die beiden geben sich hoffnungsvoll, dass die | |
heutige Entscheidung das alles doch noch verhindert. | |
Auch die Gartenbauerin und Künstlerin Charli Clark, 32, aus Bristol hofft, | |
dass es nun vielleicht doch zu einer neuen Volksabstimmung kommen könnte. | |
Sie habe von der EU profitiert, mit einem Magisterstudium in Finnland und | |
Urlauben in Frankreich. „Was mir Sorgen macht, ist die Gefahr, dass Brexit | |
das Vereinigte Königreich auseinanderreißen wird“, sagt sie. „Mir wäre es | |
lieber, wenn die Politik sich auf den Klimawandel statt auf Brexit | |
konzentriert.“ | |
Paul Clarke, 54, und seine Frau Anne, 45, sowie ihre Teenagertochter | |
Stephanie, sind eine französisch-englische Familie aus Biggin Hill am | |
Südostrand Londons. „Nach dem Referendum habe ich versucht, meinen | |
französichen Akzent zu verbergen“, erzählt Anne, die seit einem Jahr auch | |
die britische Staatsangehörigkeit hat. Paul vertraut Boris Johnson nicht: | |
„Er lügt in der Politik und privat“, sagt er. | |
Bei einem Referendum wird es seiner Meinung nach zu einer starken | |
Remain-Stimme kommen, höher als in den Meinungsumfragen, weil neu | |
eingebürgerte EU-Migranten wie seine Frau Anne und viele jüngere Menschen | |
diesmal mitwählen werden. Er hofft, dass mit parteiübergreifender | |
Zusammenarbeit so wie heute im Parlament auch ein Antrag zu einer | |
Volksabstimmung durchkommen wird, in der die Menschen sich zwischen dem | |
neuen Brexit-Deal und dem EU-Verbleib entscheiden können. | |
Richard Poole, 37, Jess Havelock, 21, und Alice Lynn, 26 aus Bournemouth | |
sind im Halloween-Kostüm gekommen – Hinweis auf das bisherige | |
EU-Austrittsdatum am 31 Oktober. Sie fordern nicht nur den Verbleib in der | |
EU, sondern auch „ein besseres demokratisches System“, denn „unsere grün… | |
Stimmen konnten bei uns bisher nur Stadträte wählen.“ Lynns Vater stammt | |
aus Nordirland; ihre Großmutter, sagt sie, war Polizistin während der | |
Auseinandersetzungen dort. „Sie und viele andere haben einen schmerzhaften | |
Prozess für den Frieden durchgemacht. Deshalb stimmten die meisten in | |
Nordirland für Remain. Nun setzt Johnson das alles einfach aufs Spiel“, | |
findet sie. | |
## Rugby-Fans vor den Kneipen | |
Die Sondersitzung des Parlaments ist zu Ende. Später wird bekannt, dass | |
bekannte Brexit-Anhänger wie Jacob Rees-Mogg das Parlamentsgebäude nur | |
unter massivem Polizeischutz verlassen konnten. Videos zeigen, wie er aus | |
der Anti-Brexit-Menge beschimpft wird. Auf sozialen Netzwerken beschimpfen | |
sich beide Lager massiv und heftig. | |
Die Veranstaltung löst sich auf, plötzlich dominieren nur noch | |
Menschentrauben vor den Kneipen, größtenteils Rugby-Fans, die Englands | |
Erfolg beim Worldcup verfolgen. Ayo Adesina, 36, aus Hackney diskutiert mit | |
einigen den Brexit. „Ich hatte einen Job in Holland, jetzt werden Briten | |
wie ich nicht mehr rekrutiert, und meine Tochter kriegt ihre Medizin gegen | |
Epilepsie aus Europa nicht“, sagt sie. Die Argumente finden unter den | |
angetrunkenen Sportfans keinen großen Erfolg. | |
Adesina erklärt der taz später, dass er ein paar Rechtsextreme in der Menge | |
erkannte, und deshalb absichtlich das Gespräch suchte. „Ich habe selber für | |
den Brexit gestimmt und inzwischen eine volle Kehrwende getroffen. Ich | |
weiß, wie diese Menschen denken.“ | |
Als später am Abend die Nachricht kommt, dass Boris Johnson tatsächlich die | |
EU um eine Verlängerung gebeten hat, wie vom Gesetz gefordert, haben | |
Räumfahrzeuge bereits das gesamte Viertel gesäubert und die Polizei die | |
Straßensperren beseitigt. Viele Theater haben im Londoner Westend am | |
Samstag abend ihren vollsten Tag, doch das größte Theater im gibt es nun | |
wohl noch einige Wochen weiter kostenlos. | |
20 Oct 2019 | |
## LINKS | |
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[3] /Unterhaus-verschiebt-Brexit-Votum/!5634644/ | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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