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# taz.de -- 70 Jahre Deutscher Gewerkschaftsbund: Im Daueraufbruch
> Der Deutsche Gewerkschaftsbund feiert Jubiläum. Die Dachorganisation
> prägte die Sozialgeschichte der Republik – und muss sich heute neu
> erfinden.
Bild: Rund 400 Delegierte hören sich im Mai 2014 die Grundsatzrede des aktuell…
Der 13. Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) im Mai 1986:
Einen Monat zuvor hatte die Atomkatastrophe von Tschernobyl ihre
radioaktive Wolke über den europäischen Kontinent geschickt, nun saßen
spätabends Journalisten mit dem DGB-Vorsitzenden Ernst Breit zusammen.
Besprochen wurden die Anträge für den Kongress, darunter einer, der den
„Ausstieg aus der Kernenergie“ forderte. „Was meinen Sie, Herr Breit, wird
dieser Antrag durchkommen?“ Und Breit antwortete: „Wenn die Kinder nicht
mehr im Sandkasten spielen dürfen, dann müssen wir wech davon.“
Der Antrag wurde beschlossen und machte den DGB – trotz heftiger Konflikte
innerhalb und zwischen den Mitgliedsgewerkschaften – zur ersten
Großorganisation in Deutschland, die sich die Forderung nach dem
Atomausstieg zu eigen machte.
Das Vorgehen hat Symbolwert bis heute: Immer noch versteht sich der DGB als
„politischer Arm“ und Serviceorganisation, etwa beim Rechtsschutz, der
Gewerkschaftsbewegung: einflussreich und machtlos zugleich, Leithammel und
Spielball für die Mitgliedsgewerkschaften mit ihren unterschiedlichen
Brancheninteressen und politischen Profilen. Am Montag nun feiert der
Gewerkschaftsbund seinen 70. Geburtstag: mit einem Festakt in Berlin samt
Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland und ein Großteil
seiner Fabriken in Trümmern lagen, hatten viele der aus den Schützengräben
zurückgekehrten Gewerkschafter eigenhändig den Wiederaufbau ihrer Betriebe
in Angriff genommen. Etliche ihrer Chefs waren als Ex-Nazis diskreditiert
und machtlos. Im industriellen Kerngebiet an der Ruhr hatten IG Metall und
IG Bergbau bestimmenden Einfluss, auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung:
Am 13. Oktober 1949 gaben sich 16 selbstständige Gewerkschaften mit
insgesamt rund 5 Millionen Mitgliedern einen gemeinsamen Dachverband – den
Deutschen Gewerkschaftsbund.
Schon ein Jahr zuvor hatten sich, anlässlich der Währungsreform, rund zehn
Millionen Beschäftigte in der amerikanischen und britischen Besatzungszone
an einem eintägigen Generalstreik gegen Preiserhöhungen und für
betriebliche Mitbestimmung beteiligt. Später, am 4. April 1951, setzte der
DGB das Gesetz zur Mitbestimmung in der Montanindustrie durch, das den
Belegschaftsvertretern Mitbestimmungsrechte im Aufsichtsrat der Unternehmen
verschaffte.
## 35-Stunden-Woche als Machtprobe
1952 folgte dann das Betriebsverfassungsgesetz, das die Mitwirkungsrechte
der Betriebsräte bei Personalpolitik und Arbeitsbedingungen festschrieb –
beides Grundsteine der jahrzehntelang auch von CDU-Politikern gepriesenen
„sozialen Marktwirtschaft“.
1956/57 waren die Gewerkschaften bereits auf über 6 Millionen Mitglieder
gewachsen. Sie nutzten den Nachkriegsaufschwung, um soziale Verbesserungen
durchzusetzen. So erkämpfte die IG Metall in einem dreieinhalb Monate
erbittert ausgetragenen Arbeitskonflikt in der Metallindustrie
Schleswig-Holsteins die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die Arbeiter
in den Werften. Auf Betreiben des DGB wurden die Regelungen dieses
Tarifvertrags später als Gesetz für alle Beschäftigten in der
Bundesrepublik verallgemeinert.
Der Aufstieg der Gewerkschaften und ihres Dachverbands DGB setzte sich bis
in die achtziger Jahre fort. Die neuen sozialen Bewegungen, als Folge der
rebellischen Aufwallungen von 1968, spülten massenweise neue Mitglieder in
die Gewerkschaften, häufig in kritischer Distanz zu den „verkrusteten
Apparaten“.
Die IG Metall unter ihrem Vorsitzenden Otto Brenner bot dem von der SPD
wegen Linksabweichung geschassten Sozialistischen Deutschen Studentenbund
(SDS) Unterschlupf in der Frankfurter IG-Metall-Zentrale. Ein ehemaliges
Mitglied des SDS-Vorstands, Helmut Schauer, war später in der
Tarifabteilung der IG Metall an den Planungen des Arbeitskampfs für die
35-Stunden-Woche beteiligt.
Das Projekt wurde eine gesellschaftliche Machtprobe: Massenhaft
mobilisierten 1984 Beschäftigte in den Tarifgebieten Baden-Württemberg und
Hessen für die 35-Stunden-Woche, parallel streikte sieben Wochen lang die
kämpferische IG Druck und Papier. Schließlich wurde ein Durchbruch für die
Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf unter 40 Stunden erkämpft – gegen
heftigsten Widerstand der Arbeitgeber (Massenaussperrungen) und der
CDU-Regierung (Kanzler Kohl: „dumm und töricht“).
## Taumelnd im Skandalchaos
Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften mit nun 7,9 Millionen Mitgliedern
waren auf dem Höhepunkt ihrer Macht – und gleichzeitig in ihrer tiefsten
Krise. Denn auch der gemeinwirtschaftliche Sektor des DGB war gewachsen –
bis zum Kollaps, der Anfang 1982 durch die Skandalenthüllungen des Spiegel
über Korruption und Selbstbereicherung der gewerkschaftlichen Manager in
der Neuen Heimat und anderen gemeinwirtschaftlichen Unternehmen ausgelöst
wurde.
Eine jahrelang im Skandalchaos hilflos dahintaumelnde DGB-Führung
beschloss, den lästigen, überschuldeten NH-Konzern im September 1986 für
eine symbolische Mark an den Bäckereiunternehmer Horst Schiesser zu
verkaufen. Die taz meldete als Erste: „Neue Heimat an Bäcker verkauft“. Und
ein paar Wochen später, als der Kauf aufgrund des öffentlichen Drucks
ebenfalls für eine Mark rückgängig gemacht werden musste: „Neue Heimat
preisstabil“. Am Ende hatte der DGB seinen gemeinwirtschaftlichen Sektor
und damit seinen Vermögensrückhalt weitgehend verloren. Ein verdienter
Rückschlag, der die Gewerkschaften auf ihre ureigenste Machtreserve
zurückwarf: das Engagement und die Kraft ihrer Mitglieder. Und eine
unmissverständliche Aufforderung zur kulturellen und politischen
Erneuerung.
Ebendiese suchten nachwachsende Führungskräfte des DGB, darunter der
heutige DGB-Chef Reiner Hoffmann, in Diskussion mit gesellschaftskritischen
Sozialwissenschaftlern – „Jenseits der Beschlusslage“. Wie können die
Gewerkschaften Anschluss finden an die sozialen Bewegungen, an veränderte
Beschäftigungsstrukturen in Industrie und Dienstleistungsbereich, an
soziale Differenzierung und Individualisierung?
Die IG Metall organisierte unter ihrem Vorsitzenden Franz Steinkühler eine
Zukunftsdiskussion mit gewerkschaftsnahen Industriesoziologen, öffnete sich
neuen Themen wie der Überwindung kurz getakteter Fließbandarbeit durch
Gruppenarbeit. Und sie entwickelte eine internationale gewerkschaftliche
Zusammenarbeit in den sich bildenden Weltkonzernen: So wurde 1998 bei VW
der erste Weltbetriebsrat gegründet, in dem Delegierte aus allen Standorten
und Kontinenten vertreten waren.
## Mitgliederschwund setzt sich bis heute fort
Die Neuorientierung der Gewerkschaften wurde jedoch schon zuvor jäh
unterbrochen: durch die Wende 1989/90. Die DGB-Gewerkschaften übernahmen,
zweifelnd und begehrlich zugleich, die jeweiligen Branchengliederungen des
DDR-Gewerkschaftsbunds FDGB und erlebten einen sprunghaften
Mitgliederzuwachs von 7,9 (1990) auf 11,85 (1991) Millionen – ein
vielleicht notwendiger, aber teurer Flop.
Denn gleichzeitig brach die DDR-Ökonomie flächendeckend zusammen, schnellte
die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland hoch und schuf ein Heer von
Arbeitslosen, die scharenweise aus der nun nicht mehr bindenden
Zwangsmitgliedschaft der ehemaligen DDR-Gewerkschaft flüchteten. Neun Jahre
später, zur Jahrtausendwende, waren in den DGB-Gewerkschaften knapp 7,8
Millionen Mitglieder organisiert, weniger als zehn Jahre zuvor nur in
Westdeutschland.
Der Mitgliederschwund hat sich bis heute fortgesetzt, rund 6 Millionen
Menschen waren 2018 Mitglied einer DGB-Gewerkschaft. Aber die Abwärtskurve
ist flacher geworden. Auch die Struktur des Dachverbands hat sich
verändert. Aus 16 Branchengewerkschaften unter dem Dach des DGB im
Gründungsjahr 1949 sind bis heute durch Fusionen und Einverleibungen acht
geworden – darunter die beiden dominanten Großgewerkschaften IG Metall und
Verdi.
Sie alle stehen nach Jahrzehnten des alles durchdringenden Neoliberalismus
vor der Aufgabe, die Interessen der Beschäftigten in Zeiten umwälzender
[1][Veränderungen durch Digitalisierung, Globalisierung und Klimaschutz]
neu zu definieren und wirkungsvoll zu vertreten. Ein wachsendes soziales
Problembewusstsein kommt dem entgegen. „Die größten Probleme“, sagt
DGB-Chef Reiner Hoffmann, „gibt es dort, wo sich Arbeitgeber der
Sozialpartnerschaft verweigern und keine Tarifverträge abschließen wollen.“
Also inzwischen fast überall.
21 Oct 2019
## LINKS
[1] /Gruene-und-Gewerkschaften/!5578696
## AUTOREN
Martin Kempe
## TAGS
DGB
Gewerkschaft
IG Metall
Schwerpunkt Fridays For Future
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Vermögenssteuer
IG Metall
Verdi
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