# taz.de -- Dienstleistungsgewerkschaft Verdi: Irgendwo wird immer gestreikt | |
> War Verdi ein Gewinn? Die Dienstleistungsgewerkschaft muss heute in | |
> vielen Branchen ihres Organisationsbereichs gewerkschaftliche | |
> Aufbauarbeit leisten. | |
Bild: Amazon einen guten Umgang mit den Beschäftigten abzutrotzen, erfordert e… | |
Gerade frisch gewählt, zeigte sich Frank Bsirske auf dem Gründungskongress | |
im Frühjahr 2001 geradezu euphorisch. Eine „Gewerkschaft neuen Typs“ werde | |
die neue Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) sein, eine „bunte“ | |
Organisation, die sich neue Mitgliedergruppen erschließen könne. | |
Seine optimistische Ankündigung sorgte für Begeisterungsstürme der | |
delegierten Frauen und Männer aus den fünf zusammengeführten | |
Einzelgewerkschaften Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), | |
Postgewerkschaft (DPG), Handel, Banken, Versicherungen (HBV), Medien und | |
Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG). | |
Die neue Verdi, eher aus der Not des kontinuierlichen Niedergangs ihrer | |
Gründungsorganisationen geboren wurde, sollte die Wende zu neuer Blüte | |
bringen. | |
Die Hoffnungen des Neubeginns erfüllten sich nicht. Die Großgewerkschaft | |
mit damals rund 2,8 Millionen Mitgliedern ist über die 18 Jahre ihres | |
Bestehens geschrumpft – zunächst deutlich, später flachte die Kurve des | |
Niedergangs ab. [1][Wenn Frank Bsirske die Führung der Organisation jetzt | |
abgibt], wird sich die Zahl der Mitglieder bei knapp unter 2 Millionen | |
eingependelt haben. | |
Eine deprimierende Negativbilanz für den scheidenden Langzeitvorsitzenden? | |
Wer auch immer in Verdi gefragt wird, weist diese Frage mit Nachdruck | |
zurück. Verdi habe sich als wichtigste Innovation in der deutschen | |
Gewerkschaftsbewegung erwiesen – und Bsirske als ein Glücksfall. | |
Denn es war ja keineswegs ausgemacht, dass Verdi nicht an inneren und | |
äußeren Widersprüchen scheitern würde. Auch gab es zuvor in allen fünf | |
Gründungsgewerkschaften Bedenken über den Verlust ihrer besonderen | |
Eigenheiten, ihrer spezifischen Traditionen, über drohende Bürokratie und | |
„gewerkschaftlichen Einheitsbrei“. Das alles hat sich nach der Gründung | |
recht schnell verflüchtigt. | |
## Rückblick in die Gegenwart | |
War Verdi also trotz der gravierenden Mitgliederverluste ein Erfolg? Ja und | |
nein. Dazu ein kurzer geschichtlicher Rückblick: Nach dem Zweiten Weltkrieg | |
gab es unter den aus KZs und Gefängnissen, aus Exil oder Gefangenschaft | |
zurückgekehrten Gewerkschaftern (damals fast ausschließlich Männer) eine | |
heftige Kontroverse über den Wiederaufbau der Gewerkschaften. | |
Viktor Agartz, ab 1947 Leiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen | |
Instituts (WSI) der Gewerkschaften, war einer der Wortführer des Konzepts | |
einer „Allgemeinen Gewerkschaft“. Angesichts der katastrophalen Niederlage | |
der Arbeiterbewegung gegen den Faschismus in der Weimarer Republik sei | |
jetzt, beim gewerkschaftlichen Neuaufbau, eine einheitliche Organisation | |
der Arbeiterklasse erforderlich. | |
Die Zweiteilung der Arbeiterbewegung in einen gewerkschaftlichen und einen | |
– noch dazu gespaltenen – parteipolitischen Arm habe schon einmal ins | |
Verhängnis geführt und müsse durch eine partei- und branchenübergreifende | |
„umfassende Organisation des Proletariats“ überwunden werden, war Agartz | |
überzeugt. | |
Agartz und seine Mitstreiter haben sich nicht durchgesetzt. Es entstanden | |
Branchengewerkschaften unter dem Dach des DGB, die mit dem Grundsatz der | |
„Einheitsgewerkschaft“ parteipolitische Offenheit signalisierten, aber de | |
facto sozialdemokratisch dominiert wurden. | |
Aber rund fünfzig Jahre später war die Gründung der | |
Multibranchengewerkschaft Verdi – zumindest für den breiten | |
Dienstleistungssektor – ein Schritt in Richtung einer „Allgemeinen | |
Gewerkschaft“. Und mit der Wahl des Grünen-Mitglieds Bsirske zum | |
Vorsitzenden wurde die parteipolitische Bindung der Gewerkschaften an die | |
SPD deutlich geöffnet. | |
Die Multibranchengewerkschaft ist heute eine – mehrheitlich weibliche – | |
lebendige pluralistische Organisation. Sie ist darüber hinaus ein wichtiger | |
Faktor innerhalb der deutschen Gewerkschaftsbewegung mit Einfluss auf die | |
sozialen Entwicklungen in Deutschland. | |
Verdi vertritt nicht nur die Beschäftigteninteressen in den zahlreichen | |
Branchen ihres Organisationsbereichs, sondern versteht sich – deutlicher | |
als andere DGB-Gewerkschaften – als Anwältin allgemeiner sozialpolitischer | |
Interessen der arbeitenden Bevölkerung. Sie artikulierte am deutlichsten | |
die Kritik an der Agenda 2010 der sozialdemokratisch geführten | |
Bundesregierung. | |
Im Kampf gegen all die arbeitsrechtlichen Deregulierungen bei der | |
Leiharbeit, bei Befristungen, Scheinselbständigkeit und missbräuchlichen | |
Werkverträgen spielte und spielt Verdi eine führende Rolle. Den | |
gesetzlichen Mindestlohn würde es bis heute nicht geben ohne die jahrelange | |
Kampagne der großen Verdi und der kleinen Gewerkschaft Nahrung, Genuss | |
Gaststätten (NGG). | |
Zurzeit läuft noch die Kampagne gegen Altersarmut und für eine Reform der | |
gesetzlichen Rentenversicherung. Die dringend notwendigen Investitionen in | |
die öffentliche Infrastruktur und die Klimapolitik sind zwei weitere | |
Schwerpunkte beim Leipziger Verdi-Kongress. | |
## Die selbsternannte „Chancengewerkschaft“ | |
Verdi mit seinen rund 70 Branchen und über 1.000 Berufen ist zweifellos die | |
am breitesten aufgestellte gewerkschaftliche Interessenvertretung | |
Deutschlands – auch für den riesigen Bereich der prekären Beschäftigung mit | |
und ohne Arbeitsvertrag. Damit ist gleichzeitig das größte Problem für die | |
Organisation angesprochen. | |
Rund zwei Drittel der knapp 33,4 Millionen sozialversicherungspflichtig | |
Beschäftigten in Deutschland arbeiten im Dienstleistungsbereich, also im | |
Organisationsbereich von Verdi. Viele Verdi-Branchen, auch große mit hohem | |
Beschäftigungsvolumen und aufgesplitterten Betriebsstätten wie der Handel, | |
gehören zum Niedriglohnsektor mit geringer Tarifbindung und hohem Anteil an | |
prekärer Beschäftigung. | |
Der Organisationsgrad liegt über alle Verdi-Branchen hinweg bei etwa 10 | |
Prozent – in einigen Bereichen deutlich darüber, aber dafür in anderen umso | |
niedriger. | |
Demgegenüber haben die Industriegewerkschaften Metall und Bergbau, Chemie, | |
Energie eindeutig bessere Durchsetzungsmöglichkeiten. In ihren Branchen | |
arbeiten zwar nur rund 8 Millionen Beschäftigte, die aber vor allem in den | |
dominanten Großbetrieben traditionell höher organisiert sind – im | |
Durchschnitt zu rund 35 Prozent. | |
Sie profitieren zusätzlich – solange es funktioniert – vom Exportmodell | |
Deutschland. Vor allem die IG Metall hat in den letzten Jahren ihren | |
Abwärtstrend stoppen können und verzeichnet sogar wieder einen leichten | |
Zuwachs. Mit knapp 2,3 Millionen Mitgliedern ist sie heute die größte | |
Einzelgewerkschaft Deutschlands. | |
Verdi dagegen muss ihre Konfliktfähigkeit in vielen Bereichen völlig neu | |
aufbauen. Denn betriebliche Basisbewegungen laufen Gefahr ins Leere zu | |
laufen, wenn die Rückendeckung durch die Gewerkschaft, durch Streikfonds, | |
Rechtsschutz, Verhandlungskompetenz, Beratung und Ermutigung fehlt. | |
Auf dem anstehenden Kongress soll deshalb ein Reformprozess angestoßen | |
werden, um die professionelle gewerkschaftliche Leistungsfähigkeit | |
angesichts veränderter Branchenstrukturen zu verbessern und Synergieeffekte | |
zwischen bisher getrennten Fachbereichen zu erzielen, zum Beispiel zwischen | |
dem publizistischen und dem bisher eher technisch orientierten | |
IT-Medienbereich. | |
Es ist ein mühseliger, aufwendiger und langwieriger Mobilisierungsprozess, | |
ganz von vorn anzufangen, um [2][beispielsweise dem Onlineversandhändler | |
Amazon] einen menschenwürdigen Umgang mit den Beschäftigten abzutrotzen. | |
Und Amazon ist es nicht allein. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht | |
irgendwo im riesigen Organisationsbereich von Verdi gestreikt wird. „Die | |
letzte Woche, in der kein Streik stattgefunden hat, war die 52. | |
Kalenderwoche des Jahres 2015“, konstatierte [3][Frank Bsirske unlängst im | |
taz-Interview]. Das war zwischen Weihnachten und Neujahr. | |
Verdi, die selbsternannte „Chancengewerkschaft“, hat mehr als andere | |
Gewerkschaften Züge einer sozialen Bewegung. Dies über all die vielen Jahre | |
durch persönliche Präsenz, durch Vorbild, Vertrauen und strategischen | |
Weitblick unterstützt zu haben, ist das Verdienst des scheidenden | |
Vorsitzenden Frank Bsirske. | |
21 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Dienstleistungsgewerkschaft-Verdi/!5625263 | |
[2] /Verdi-Chef-Frank-Bsirske-ueber-Amazon/!5486869 | |
[3] /Frank-Bsirske-ueber-Klimastreiks/!5621168 | |
## AUTOREN | |
Martin Kempe | |
## TAGS | |
Verdi | |
Arbeitskampf | |
Frank Bsirske | |
DGB | |
Frank Werneke | |
Frank Werneke | |
Verdi | |
Frank Werneke | |
Lesestück Interview | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
70 Jahre Deutscher Gewerkschaftsbund: Im Daueraufbruch | |
Der Deutsche Gewerkschaftsbund feiert Jubiläum. Die Dachorganisation prägte | |
die Sozialgeschichte der Republik – und muss sich heute neu erfinden. | |
Verdi-Bundeskongress in Leipzig: Werneke gibt sich kämpferisch | |
Der neue Gewerkschaftschef fordert einen „Umbau von Wirtschaft und | |
Gesellschaft“. Der Plan: eine ökologische Energie-, Verkehrs- und | |
Agrarwende. | |
Verdi-Bundeskongress in Leipzig: Frank geht, Frank kommt | |
Eine Ära ist zu Ende: Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wird jetzt von | |
Frank Werneke angeführt. Gründungschef Frank Bsirske geht in den Ruhestand. | |
Unerwünschter Facebook-Post: Empörung über Verdi-Abmahnung | |
Kurz vor ihrem Bundeskongress diszipliniert die Gewerkschaft einen | |
Mitarbeiter wegen Verbreitung eines kritischen Artikels. Dagegen hagelt es | |
Protest. | |
Dienstleistungsgewerkschaft Verdi: Von Auszehrung bedroht | |
Nach dem Abtritt von Frank Bsirske übernimmt Frank Werneke den Vorsitz von | |
Verdi. Die einst größte Gewerkschaft verliert Mitglieder. | |
Frank Bsirske über Klimastreiks: „Eine beeindruckende Jugendbewegung“ | |
Seit zwei Jahrzehnten steht Frank Bsirske an der Spitze der Gewerkschaft | |
Verdi. Jetzt tritt er ab, zieht Bilanz – und ruft dazu auf, Fridays for | |
Future zu unterstützen. |