# taz.de -- Marionetten erklären die Welt: Große Bühne für kleine Puppen | |
> In Tschechien ist das Puppentheater immaterielles Unesco-Welterbe und bis | |
> heute beliebt. Zu Gast in Pilsen und Prag, wo die Puppen tanzen. | |
Bild: Die gelenkigen Holzdarsteller faszinieren – die Rollen von Gut und Bös… | |
PILSEN taz | Anfangs wirkt die an Fäden gehende Müllersfamilie noch richtig | |
nett. Als aber der Vater stirbt, wird die Erbschaft unter den drei Söhnen | |
ungleich aufgeteilt: Der Jüngste bekommt wenig – den Kater. Die Fünf- bis | |
Zehnjährigen im Publikum starren gebannt auf die Bühne des | |
Marionettentheaters. Der hölzerne Blondschopf ist sichtbar geknickt. | |
Zu Recht, finden die Kids im vollbesetzten Zirkuszelt. Die Stimme der | |
Puppenspielerin Zuzana Bruknerová klingt weinerlich, der Kopf der Puppe | |
hängt mitleiderregend zwischen den Schultern. Radek Beran lenkt die Figur | |
des Katers zum armen Tropf. „Ich verspreche dir Glück, schenkst du mir ein | |
paar Stiefel“, raunt er. Kaum hat das Tier die Stiefel an, verschafft es | |
dem Geprellten schöne Kleider, Gold und am Ende die Prinzessin. Die jungen | |
Zuschauer jubeln. | |
Die gelenkigen Holzdarsteller faszinieren. Die Rollen von Gut und Böse sind | |
klar verteilt. „Ungerechtigkeit fordert Vergeltung, im Märchen wie im | |
richtigen Leben“, sagt Zuzana. Schon die Kleinen applaudieren, wenn das | |
Gute über das Böse siegt. „Das ist die Weisheit des Unterbewusstseins“, | |
erklärt die gebürtige Slowakin, die seit mehr als dreißig Jahren die Fäden | |
der kleinen Sympathieträger in den Händen hält. Es gehe um tiefe Emotionen, | |
die jeder von Kind an hat – Freude, Angst, Sehnsucht nach Liebe, der Wunsch | |
nach Gerechtigkeit, Schadenfreude oder Rache. „Die Puppen lassen Kinder | |
träumen und fühlen“, sagt die Theaterfrau. Auch die Erwachsenen. | |
Zuzana Bruknerová und Radek Beran gehören zur bekannten Prager Spielgruppe | |
„Buchty a Loutky“ („Buchteln und Puppen“), die seit 1991 existiert. Wie… | |
die zierlichen Charaktere an den Fäden führt, die Beine krachend auf die | |
selbstgebaute Bühne fallen lässt und die Arme zu einer Pose der Entrüstung | |
hochreißt, haben sie an der Theaterfakultät der Akademie für Musische | |
Künste in Prag studiert. Das Marionettenspiel ist ein eigener Fachbereich. | |
In Tschechien sind die leichtfüßigen Holzfiguren bei Jung und Alt beliebt | |
und die Vorstellungen meist ausverkauft, wie beim Internationalen | |
Zirkusfestival Letní Letná in Prag. Die Ansicht, dass Marionetten | |
altmodisch seien, ist kaum verbreitet. Bis heute ist das Puppentheater im | |
staatlichen Bildungsauftrag verankert. Vor zwei Jahren sind sie | |
immaterielles Unesco-Welterbe geworden. Das hat sie noch populärer gemacht. | |
Auch in Pilsen südwestlich von Prag haben die Gliederpuppen eine lange | |
Tradition. „Marionetten sind eine Lebensart“, sagt Jakub Hora, der Direktor | |
des alteingesessenen Marionettentheaters „Alfa“. Computerspiele könnten das | |
nicht ersetzen und seien auch keine Konkurrenz: „Vor dem kalten | |
Elektronikgerät sitzt du allein, im Theater aber mit Menschen zusammen.“ | |
Der Bühnenchef steht auf humane Interaktion – „Human Fantasy Theatre“, w… | |
die Fantasie mobilisiert werden muss. Auf zeitgemäße Stücke legt er Wert. | |
Kasperle und Teufel, König und Königin dürfen aber nicht fehlen. Außerdem | |
gibt es „In“-Typen wie Comicfiguren, Dinosaurier oder Superagenten wie | |
„James Blond“. | |
Im Proberaum trainiert Josef Jelínek mit einer expressiv gestalteten | |
Königsfigur. Zum Ensemble gehört er seit drei Jahren. Sein Herz brennt für | |
Puppen. Seit dem zwölften Lebensjahr lässt er die Wackelkandidaten tanzen. | |
„Wir können etwas, das normale Schauspieler nicht können“, sagt der | |
31-Jährige, der aus einer alten Theaterfamilie stammt. | |
## Marionetten sind die besseren Schauspieler | |
„Wir können mehrmals sterben oder Dinge tun, die gegen die Physik sprechen, | |
wie fliegen, plötzlich verschwinden und an einem anderen Ort unerwartet | |
wieder auftauchen.“ Marionetten seien einfach die besseren Schauspieler, | |
findet Jelínek. | |
Wie zauberhaft und vielgestaltig sie sein können, zeigt das | |
Marionetten-Museum in Pilsen. Unter seinem Dach ist das kulturelle | |
Puppenerbe Tschechiens versammelt: drei Stockwerke voller wertvoller | |
Spielgesellen aus verschiedenen Epochen – wertvolle Marionetten, mit und | |
ohne Schnüre, Mannequins und Stockpuppen, expressiv gestaltete Köpfe aus | |
Holz, Pappmaché oder Gummi. Mit den ältesten aus dem 18. Jahrhundert | |
tourten fahrende Komödianten und Zirkusse durch die Lande. Betuchtere | |
Familien besaßen eigene Spieltheater. | |
Laientheater, Amateurbühnen mit Kaberettprogramm waren enorm beliebt. Die | |
Akteure trafen mit ihrem Spiel den Nerv der Zeit. „Die Puppen erschienen | |
nicht nur als Spaßmacher, sondern auch als Mahner“, sagt Museumsdirektorin | |
Markéta Formanová. In Böhmen, das bis 1918 zur Habsburger Monarchie | |
gehörte, brachten die Theater angesichts des erwachenden Nationalismus | |
viele kritische Stücke auf die Bühne wie etwa „Der brave Soldat Schwejk“ | |
von Jaroslav Hašek: ein antimilitaristisches Schelmenstück, das die | |
österreichischen Unterdrücker veräppelte. Puppen gegen Österreich – | |
humorvoll und auf Tschechisch gespielt. Das hatte Erfolg. | |
Im 20. Jahrhundert boomten die Theater, weil sie staatlich gefördert | |
wurden, um die Jugend ideologisch zu beeinflussen. Doch das Gegenteil | |
passierte. Gerade in diesen Theatern blühte der Antikommunismus. „Das | |
Puppenspiel war oft eine verdeckte Form des Widerstandes“, sagt Formanová. | |
Das sei ein Grund, weshalb es bis heute so aktuell ist. | |
## Die Nonkonformisten | |
In der Ausstellung kommt man auch dem Pilsener Josef Skupa (1892–1957) | |
nahe, der vor gut hundert Jahren den Revolutionskasperle und die Figuren | |
Spejbl und Hurvínek erfunden hat. Dank Skupa und dem | |
Puppentrickfilm-Regisseur Jiří Trnka wuchsen Generationen von Kindern und | |
Eltern in Osteuropa mit Marionetten auf, auch in Deutschland. | |
Im Pilsener Stadtgarten ist Spejbl und Hurvínek zu Ehren eine Skulptur | |
aufgestellt. Der stets lässig gekleidete Vater und der immer freche Sohn | |
gehören zu den beliebtesten Marionetten des Landes. Der charismatische | |
Puppenspieler Skupa lieh den beiden abwechselnd seine Stimme: Spejbl bekam | |
einen tiefen Bass, Hurvínek eine jungenhafte Stimmbruchstimme. | |
Das Puppen-Duo ist live auf der Bühne des Spejbl-und-Hurvínek-Theaters in | |
Prag zu erleben. In knielanger Hose mit Hosenträgern, mit übergroßen Augen, | |
einer schmächtigen Haartolle auf der Stirn und den Füßen in derben | |
Holzschuhen trippelt Hurvínek aufgeregt über die Bühne. Der Junge und Vater | |
Spejbl im schwarzen Schlabberanzug unterhalten die Zuschauer seit fast | |
fünfzehn Jahren im Stadtteil Dejvice. Hurvínek – naseweis, offenherzig und | |
ständig in Opposition gegen den Vater und die Welt. | |
Der Alte – vorsichtig, bloß nicht anecken. Der Kleine würde den Marionetten | |
am liebsten die Fäden abschneiden, um sie frei und unabhängig zu | |
machen.„Das ungleiche Paar ist die Idealbesetzung im Generationenstreit“, | |
sagt Martin Klásek, Leiter der Profi-Bühne. Ein Dialog, der Kinder und | |
Eltern interessiert. Grotesken werden gespielt, mal Krimis, mal Märchen. | |
Für Erwachsene fallen die Stücke philosophischer, politischer aus. Schon | |
Kláseks Vorgänger spielten sich mit zweideutigen Witzen in die Herzen der | |
Zuschauer, wenn das Vater-Sohn-Duo erst gegen das Nazi-Regime opponierte, | |
nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die Kommunisten. Puppen konnten nonkonform | |
sein. | |
„Das Schöne ist“, sagt Klásek, „dass ihre Frechheiten nicht so hart, ni… | |
so gefährlich klingen wie die von menschlichen Wesen.“ Wenn die eigentlich | |
Sprachlosen etwas sagen, wirke es niedlicher, sympathischer, da könne man | |
lachen – und eher mal nachdenken, anstatt abzuwiegeln. Es reden ja | |
scheinbar unschuldige Gliederwesen, die ohnehin von Schnüren gebändigt | |
sind. | |
So kabbeln sich Spejbl und Hurvínek bis heute mit Witz, Feingefühl und Herz | |
über Alltagsprobleme, klären Sinn und Hintersinn von Märchen wie | |
Rotkäppchen, fragen sich, was eigentlich Liebe sei und warum das Publikum | |
überhaupt Marionetten brauche | |
## Jede Puppe ein Unikat | |
„Uns gehen die Themen nicht aus“, sagt der Prinzipal, der selbst gut | |
Deutsch spricht. Nach über dreißig Jahren Bühnenarbeit steht für ihn fest, | |
dass man auch als Erwachsener Kind bleiben muss. „Jedenfalls im Innern.“ | |
Das bringe die Menschen zum Kern des Lebens zurück: „Sie kommen zu uns, | |
weil sie das Kindliche in der modernen Welt vermissen.“ | |
Auch bei Pavel Truhlár läuft alles wie am Schnürchen. Nur noch den einen | |
Faden am Fadenkreuz zurechtzupfen und abschneiden. Dann hängt er richtig. | |
Puppenmacher Pavel Truhlár malt dem selbst geschnitzten Hampelmann eine | |
rote Nase. Fertig. Mehr braucht diese Marionette nicht. Sie spricht durch | |
ihren schlichten Holzkörper. Auf dem Ateliertisch lässt der 50-Jährige sie | |
ihre ersten Gehversuche machen. Die Gliederpuppe steht aufrecht auf der | |
Holzplatte, ihr Kopf neigt sich zaghaft, sie verbeugt sich, tut ein paar | |
Schritte nach vorn, wendet sich dem Betrachter zu, kniet lächelnd vor ihm | |
nieder. Das geht ans Herz. | |
Truhlár lächelt, und es scheint, als ob ihn sein neuer hölzerner Freund | |
gerade selbst verzaubert hat. Hinter den schönen Prinzessinnen, den | |
tapferen Rittern, den neckischen Kasperles und all den anderen, die an den | |
Wänden seines Studios aufgereiht sind, die Truhlár zum Leben erweckt hat, | |
stehen durchlebte Schöpfungsprozesse. „Das ist von Anfang bis Ende | |
aufregend“, sagt der Mann, der Marionetten seit einem halben Leben fertigt. | |
Jede Puppe ein Unikat. | |
In Truhlárs Laden kann man die bunte Welt der stumm von der Decke | |
baumelnden Geschöpfe bestaunen. „Manche Leute fangen dann an zu flüstern“, | |
erzählt der Puppenmeister. Weil sie sich von allen Seiten beobachtet | |
fühlen. „Es gibt eben Dinge, die einen starken Zauber ausüben.“ | |
27 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Beate Schümann | |
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