# taz.de -- Rauch aus Sibirien: Die Erhebung der Toten | |
> Rauchschwaden ziehen von weit her über das Land. Gelöscht wird nicht. Wut | |
> und Lethargie lähmen die Menschen in Russland. | |
Bild: Gelöscht wird nicht, die Feuerwehr lässt sich nicht sehen | |
Der Himmel ist trüb. So neblig, sage ich. „Das ist kein Nebel“, sagen sie, | |
„das ist Rauch aus Sibirien.“ Es brennt. Die Feuer sind zig Kilometer | |
entfernt, in der Region Irkutsk, aber man kann, sagen sie, ihre Wirkung | |
sehen bis hierher. Die Regierung weigere sich, zu löschen, weil es ihr zu | |
teuer sei, und egal. Russland in diesem Sommer ist aufgebracht; in Moskau | |
demonstrieren sie wöchentlich gegen die Wahlmanipulation, im Ausland | |
schreiben sie von Putins sinkender Popularität. Und gleichzeitig ist da | |
dieser Gleichmut. | |
Wut und Lethargie zusammen, vielleicht eine sehr russische Mischung. So | |
lange Jahre der Wut, dass man sich mit Lethargie schützen muss. Ich nenne | |
hier im Text zur Sicherheit nicht die Namen der Leute, mit denen ich | |
spreche, oder ihre Wohnorte, man weiß ja nie. | |
Die Regierung, sagen sie, habe die Menschen in der Hand, vor allem über den | |
Wohnungskredit, den viele Russen aufgenommen haben. Sie glauben nicht an | |
Wandel. Die Opposition in Moskau, das sei doch nur Theater. „Die gibt es, | |
weil es sie geben darf.“ Wer wirklich gefährlich wird, für den finde der | |
Apparat andere Lösungen. | |
Putin, der Lieblings-Bond-Bösewicht des Westens, erscheint anders hier, | |
unbedeutender, er ist bloß ein Teil des Systems. „Wenn er stirbt“, sagt | |
eine, unvorstellbar für sie, dass Putin anders verschwinden würde, „wenn er | |
stirbt, dann kommt halt ein anderer.“ Sie wünschen sich vor allem, dass die | |
Oligarchen und die korrupten Beamten entmachtet werden. Wir werden gemolken | |
von denen. Und manchmal sehnen sie sich nach den alten Zeiten zurück. Die | |
Großmutter sagte, zu Sowjetzeiten habe es zwar wenig gegeben, aber das | |
wenige habe man eben gehabt. „Heute sind die Supermärkte voll von Waren, | |
aber wir können nichts davon bezahlen.“ Kapitalismus zum Zuschauen. | |
Getragen mit einer Mischung aus Sarkasmus und Stoizismus, auch Stolz. | |
## Teil der Propaganda-Strategie | |
Wir treffen auf Militärparaden und Festtage der Marine, gefühlt dauernd, | |
Teil der Propaganda-Strategie. Und viele feiern trotzdem stolz die | |
russische Armee. „Ich liebe mein Land, aber ich hasse den Staat“, zitiert | |
einer, von wem sei das nochmal, Puschkin bestimmt, von dem ist doch alles. | |
Und die Zukunft? | |
Vor einer echten Revolte, sagt die, die nach Putin noch so einen erwartet, | |
habe sie Angst. Nachher gebe es Krieg wie in der Ukraine. „Wenn wir uns | |
ernsthaft wehren, zertreten sie uns wie die Ameisen.“Nicht jeder ist | |
unzufrieden. Ich kenne Leute, die leben gut hier, in hart erarbeitetem, | |
neuem Wohlstand, für sie funktioniert das System. Viele andere hätten sich | |
zurückgezogen ins Private; die wollten nicht mehr über Politik reden. Nicht | |
mehr wütend sein. Es ist anstrengend, wütend zu sein. | |
„Wir haben sowieso keine Macht. Wir sind wie Tote.“ Und manchmal brennt es | |
kurz, die Toten erheben sich. Dann ist wieder Ruhe, und Rauch liegt über | |
Sibirien. | |
20 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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