# taz.de -- Die Wahrheit: Ich, die Wespe | |
> Naturschutz in seiner konsequentesten Form: Wie ich einmal von Amts wegen | |
> totgeschlagen wurde und meine Existenz endlich einen Sinn bekam. | |
Als mir die Bäckereiangestellte den Kaffee und das Plunderteilchen nach | |
draußen brachte, war noch alles in Ordnung. Die Sonne lachte, eine Zeitung | |
hatte ich auch dabei. Fast schien es so, als würde ich die sonst sämtliche | |
Empfindungen permanent übertönende, entsetzliche Sinnlosigkeit meiner | |
Existenz tatsächlich einmal für einige Sekunden beiseiteschieben können. | |
Der Morgen war schön. | |
Dann kam die Wespe. Schnupperte an meinem Plunderteilchen. Biss ein | |
Stückchen ab. Kaute eher gelangweilt als mit ehrlichem Appetit darauf | |
herum. Taumelte gegen meinen Kopf und versuchte, mir den Zucker aus dem | |
Mundwinkel zu lecken. Badete in meinem Kaffeeglas, drohte darin zu | |
ertrinken, aber kalkulierte rotzfrech darauf, dass ich, um das Getränk | |
weiter genießen zu können, sie mit dem Löffel retten würde. Sie nervte | |
extrem mit ihrer den Herbstwespen eigenen Schwerfälligkeit gepaart mit der | |
Chuzpe derjenigen, die nichts mehr zu verlieren hat. Greise Wespen haben | |
kurz vor dem Tod jedes Maß verloren. Man kennt das Phänomen auch von | |
Meinungsjournalisten in ihrer letzten beruflich aktiven Lebensphase. | |
In der Nähe der kleinen Bäckerei lungerte ein Typ vom Ordnungsamt herum. Er | |
beobachtete mich dabei, wie ich immer gereizter die Wespe fortwedelte und | |
-schubste. Meine Gefährderansprache gewann an Intensität, bis ich | |
schließlich die Nerven verlor und das Tier mithilfe der Zeitung von seinem | |
irdischen Dasein erlöste: Patsch! | |
Sofort stand der Ordnungsmensch neben meinem Tisch und griff nach der | |
Zeitung. In sachlichem Tonfall klärte er mich auf: „Sie haben soeben | |
mutwillig eine Wespe erschlagen. Laut Bundesnaturschutzgesetz, Paragraf | |
neununddreißig, Ziffer eins, ist das strengstens verboten.“ | |
## Blut für Mücken | |
Meine heikle Lage verkennend, reagierte ich patzig: „Wollen Sie mich | |
verarschen? Und als Nächstes spende ich vielleicht noch Blut für Mücken? | |
Oder kacke den Schmeißfliegen auf einen Silberteller …“ | |
Er blieb ruhig. In seinem Beruf war er den Umgang mit Uneinsichtigen und | |
Unverschämten gewohnt. „Hiermit leite ich Ahndungsmaßnahmen nach Ziffer | |
sieben ein“, kündigte er an. „Bitte nehmen Sie Ihre Kopfbedeckung ab und | |
legen die Hände auf den Tisch.“ | |
Ich dachte zunächst an einen Witz. So verblüfft war ich, dass ich mich | |
nicht wehrte, als er anfing, mich mit meiner eigenen Zeitung zu erschlagen. | |
Patsch, patsch, patsch. Das tat sehr weh, denn es dauerte sehr lange. Ich | |
war ja viel größer als eine Wespe. Was bei einem kleinen Insekt sehr | |
schnell ging, nähme bei mir voraussichtlich Monate in Anspruch. Patsch, | |
patsch, patsch. | |
Es wurde Abend, die Bäckerei schloss, es wurde Nacht. Patsch, patsch, | |
patsch. Ich schrie die ganze Zeit über. Anwohner baten um Ruhe, fluchten | |
und schlossen schließlich geräuschvoll die Fenster, als sie erfuhren, dass | |
ihr Schlaf einer nicht aufschiebbaren Amtshandlung gegenüber als | |
nachgeordnet galt. Nachtschwärmer blieben eine Weile neben uns stehen und | |
fachsimpelten mit einem Bier in der Hand über Schlagtechniken und | |
Artenschutz. | |
Der Morgen kam, die Bäckerei öffnete. Ob sie nun mal langsam das leere Glas | |
abräumen könne, fragte die Bäckersfrau freundlich und nicht ohne Mitleid, | |
denn sie bekam ja mit, was hier geschah. Der Anblick war für sie bestimmt | |
schon traurige Routine. Ich schrie weiter wie am Spieß, während ich ihr mit | |
einer fahrigen Handbewegung das Forträumen des Geschirrs gestattete. | |
Der Vollstrecker schwitzte. Alle Viertelstunde wechselte er die Zeitung vom | |
lahm gewordenen Arm in den jeweils anderen. Das war wirklich kein | |
angenehmer Job, den er da hatte. Patsch, patsch, patsch. Längst hatte ich | |
meinen Fehler eingesehen, woran die unaufgeregt professionelle Art meines | |
Peinigers nicht unerheblichen Anteil hatte. In den Nächten sang er mir | |
Schlaflieder, damit wenigstens ich ein Weilchen schlafen konnte, während er | |
mich weiterschlug. Patsch, patsch, patsch. Er war wirklich kein Unmensch; | |
zeitweilig meinte ich sogar, so etwas wie Bedauern über seine Züge huschen | |
zu sehen. Er tat nur seine Pflicht. Was Recht war, musste nun mal Recht | |
bleiben. | |
## Sonntag im Zoo | |
Die Zeitung war natürlich schon am ersten Tag vollkommen zerfleddert, doch | |
es gab ja täglich eine neue. Die Sonntagsausgaben waren allerdings am | |
schlimmsten. Denn am Wochenende, das mein tierbegeisterter Stammschläger | |
mit seiner Familie im Zoo verbrachte, zeigte sich ein jüngerer Kollege vom | |
Nabu für mich zuständig. Ich fand ihn uncharmant und grob. Das war | |
vielleicht ungerecht, denn zum Teil lag es sicher auch an den dickeren | |
Wochenendausgaben. Doch vor allem waren der vertraute Mitarbeiter und ich | |
inzwischen ein eingespieltes Team. Der gegenseitige Respekt wuchs mit jedem | |
seiner fein tarierten Schläge. | |
Während nun also der junge Vertreter ungelenk auf mich eindrosch – patsch, | |
patsch, patsch – und ich noch mehr schrie als sonst, stellte ich mir meinen | |
Freund vom Ordnungsamt vor, wie er zur selben Zeit merkwürdig abwesend | |
neben Frau und Kind am Ameisenfreigehege stand. | |
Irgendwann ertrug seine Frau die Stille nicht mehr und sprach aus, was im | |
Grunde beide wussten: „Du denkst an die Arbeit, stimmt’s?“ | |
Erleichtert seufzte er auf – wie gut es tat, sich auszusprechen: „Ich hab | |
da so eine Maßnahme nach Ziffer sieben zu laufen, und der Straftäter ist so | |
zäh – nach sechs Wochen hat der noch nicht mal angefangen zu bluten. Jetzt | |
kriege ich schon wieder diese Sehnenscheidenentzündung. Ich wünschte mir | |
für uns beide nichts sehnlicher, als dass sein Leiden bald ein Ende hat …“ | |
Sanft strich sie ihm über den Arm und sagte: „Ich weiß, Hase. Das ist alles | |
nicht leicht. Aber unser Kind soll doch auch später noch eine intakte Natur | |
vorfinden. Eigentlich hast du doch den wichtigsten und schönsten Beruf der | |
Welt. Ich bin so stolz auf dich!“ | |
Getröstet legte er ihr den schmerzenden Arm um die Schulter und liebevoll | |
blickten sie ihrem kleinen Mädchen hinterher, wie es zur großzügigen neuen | |
Wespenfluganlage eilte. | |
12 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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