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# taz.de -- Die Wahrheit: Motormoloch voller Mörder
> Stuttgart ist eine einzige immobile Hölle und zugleich die deutsche
> Zentrale des automobilen Wahnsinns. Eine Visite im schwäbischen
> Dampfkessel.
Es gibt keine Widersprüche mehr. Es passt alles zusammen. Balzacs
Bemerkung, dass jedes Kapitalvermögen in einem Verbrechen gründe – in einem
multiplen brutalen Vergehen an den Arbeitern, am Geist und am Antlitz der
Welt –, wird in hiesigen Breiten nirgendwo sinnfälliger als in einer Stadt,
die man unter dem Namen Stuttgart führt. In Stuttgart ist alles haargenau
so, wie es ist. Stuttgart ist, was ist. In Stuttgart, diesem süddeutschen
Dampf- und Dumpfkessel, hat die radikalste Variante des Protestantismus,
der Pietismus, ihr gottbefohlenes Werk der Wertschöpfung vollendet. Hier
lebt nichts mehr, und zwar in vorbildlicher Weise.
Es genügt eine Stunde, die man überbrücken muss, bis der nächste Schrottzug
fährt. Fraglich, wie alte Menschen, Kranke, Behinderte den Weg hinaus aus
der niederträchtigen Totalbahnhofsruine finden sollen. Aber sollten sie?
Sollten sie nicht vielmehr aufgeben?
Beckett hat in Stuttgart seine späten, vor Sinnlosigkeit wortlosen
Fernsehdramolette inszeniert. Unser Freund Goggo Gensch war damals
Assistent beim SDR und musste dafür Sorge tragen, dass dem Nobelpreisträger
jeden Tag ein großer Aschenbecher und zwei Flaschen Whiskey bereitgestellt
wurden. Beckett war ungemein freundlich, wenn er mal sprach, er rauchte und
trank ununterbrochen und gab ab und an ein paar spärliche Regieanweisungen.
Er hat alles vorausgesehen.
Stuttgart ist ein Nest voller Mörder, die alles um sich herum und zugleich
sich selber umbringen, ohne es zu wissen, die an ihrem simulierten Leben
voller Spitzen-SUVs und anderweitiger automobiler Kotze, an ihrer
Porsche-Plage und an ihrem Daimler-Dreck ersticken, ohne es zu merken. Es
käme einem Akt der Höflichkeit gleich, auf die Schilder über den
verkommenen Perrons „Willkommen in der Hölle!“ und „Suizidstadt Stuttgar…
zu schreiben. Wenigstens wüsste man als alsbald fast hoffnungslos
Verlorener und Erledigter dann sofort, was einem in Schwabens
Motormetropole und Monstermoloch blüht.
## Innerstädtisches Unheil
Hilflos und verängstigt tapsen die Schwachen und Desorientierten durch
einen betonierten, mit Bauholzplatten überdachten und an beiden Seiten vom
übrigen innerstädtischen Unheil abgeschirmten, endlosen provisorischen
Gang. Er führt sie, sofern sie nicht vorher zusammenklappen, auf einen
gnadenlos vergammelten, schäbigen Rest von öffentlichem Platz, der
vollkommen zu Recht nach dem ehemaligen Stuttgarter Oberbürgermeister
Arnulf Klett benannt ist.
„Der Klett wohnte auf dem Killesberg“, erzählt Peter O. Chotjewitz in
seiner Autobiografie, „und hatte seinen Traum realisiert, mit dem Porsche
vom Killesberg kreuzungsfrei bis ins Rathaus zu fahren. Und so sieht die
Stadt heute aus. Das Autobahnsystem, das Stuttgart in tausend Stücke
zerreißt, ist unter diesem Herrn Klett und seinem Porsche entstanden.“
Der Arnulf-Klett-Platz geht folgerichtig in die Kriegsbergstraße über. Aber
wieso denn „Platz“? Dieser „Platz“ besteht aus einem vier- oder
achtundzwanzigspurigen Highway und sonst nichts – ein materialisiertes
Inferno, ein für die verrücktgewordene Moderne des verflucht-ewigen,
hirnlosen, möglichst rasenden und röhrenden und krachenden Hin und Her
paradigmatisches Schlachtfeld, dessen Überquerung man überlebt, um in der
apotheotischen Verrottung schlechthin zu landen, auf einem Mahnmal für das,
was „Stadtplanung“ geheißen wird und die kalten Herzen der
Immobiliengangster vor Entzücken aus dem Takt bringt: der Königstraße.
Die Frage muss erlaubt sein, was sich in den Karstköpfen, die ebenda
tagaus, tagein ihren „Shoppingspaß auf 1.200 Metern“ (stuttgart-tourist.de)
haben, noch regt. Was denken sich diese Leute, diese Stuttgarter,
eigentlich? Wird in Stuttgart überhaupt gedacht? Die Antwort darauf gibt
die Wahl des Herrn Kuhn. Die Antwort darauf gibt diese merkwürdigerweise
„verkehrsberuhigte“ Einkaufsmeile, auf der das finale Stadium des
konsumistisch infantilisierten und amoklaufenden Kapitalismus jedem, der
Augen hat zu sehen, nackt vor ebenjene tritt.
Lassen wir beiseite, dass man es, wie im „Bahnhof“, nicht für nötig
erachtet, öffentliche Toiletten zu errichten. Lassen wir ebenso beiseite,
dass sie dir hier selbst in der größten körperlichen Not die Tür eines
Scheißhauses in einem Café oder einer Eisdiele partout nicht öffnen – unser
Dank gilt den Rettungsmenschen im vierten Stock des Kaufhofs: einer
außerordentlich zuvorkommenden Klofrau und einem hilfsbereiten Neubürger,
den beiden letzten Stuttgartern, die Menschen wie Menschen behandeln.
## Architektonischer Abort
Es entbehrt gleichwohl nicht der Logik. Denn Stuttgart ist ein Abort – Geld
in architektonischer Reinform, Blaupause und Bauplan für die Verwüstung der
äußeren und inneren Welten, des Physischen und des Seelischen, eine
plastische Matrix der allseitigen Zu- und Hinrichtung, ein Limbus der
Gleichgültigkeit und Verwahrlosung.
Wage dich lediglich hundert Meter in die Königstraße hinein, und du
brauchst nie wieder Beckett zu lesen. Ein Ladenkettenmassaker. Offen
ausgebrochener Plunderwahn. Regime des Ramsches. Verschmutzung und
Vernutzung. Daseinsverneinung. Exerzierplatz einer komplett entleerten,
verfallenen Gesellschaftsformation, die jede Idee von Stil verhöhnt, jede
gefügte Gestalt zur Strecke bringt, jeden Anflug von Anmut hinwegfegt, jede
grazile Erscheinung abmurkst, die Schönheit und Hege hasst und unter den
apokalyptischen Parolen „Prügeln! Draufdreschen! Zerschlagen! Zerhauen!
Wegräumen! Auslöschen! Betonieren! Asphaltieren! Auto fahren! Einkaufen!“
im Gleichschritt voranbulldozert.
Man muss Stuttgart nichts Schlechtes mehr wünschen. Stuttgart, Stadt des
Weltkehrichts, ist das Schlechte. Stuttgart, vor Reichtum berstend, ist die
Wahrheit der Wirklichkeit. Und so, wie es ist, soll es in der Musterstadt
des Untergangs weitergehen, seinsvergessen, widerspruchslos, unaufhaltsam.
Es ist nur ehrlich. Den Neckar hinabrauschen möge alles und verschwinden
ein für allemal.
Nach einer knappen Stunde durch den Behelfsschlund zurück zum Gleis. Auf
dem Restquerbahnsteig sagt eine Frau zu ihrer Freundin: „Es ist so sinnlos.
Sooo sinnlos.“
14 Sep 2019
## AUTOREN
Jürgen Roth
## TAGS
Stuttgart
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Kolumne Die Wahrheit
Angeln
Wachstum
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