# taz.de -- Vergessene Geheimsprache Rotwelsch: Das Erbe | |
> Als Harvard-Professor Martin Puchner zu der Sprache Rotwelsch | |
> recherchiert, stößt er auf Familiengeheimnisse und Abgründe der | |
> Geschichte. | |
Bild: Martin Puchner in der Bibliothek der American Academy in Berlin | |
Da ist dieser geheimnisvolle Raum, das Arbeitszimmer des Onkels, | |
vollgestopft mit Büchern bis unter die Decke. An einer Wand hängen Geigen, | |
Bratschen, eine Laute. Der Geruch von Zigarillos liegt in der Luft. Neben | |
dem Schreibtisch steht eine Chaiselongue mit einer Vorrichtung, in die man | |
ein aufgeschlagenes Buch hinter einer Glasscheibe einklemmen kann, um es im | |
Liegen über dem Kopf zu lesen. | |
Er ist sechs, vielleicht sieben Jahre alt und mit seinen Eltern zu Besuch | |
in der großen Altbauwohnung in München-Schwabing. Der Onkel, ein kräftiger | |
Mann mit rötlichem Bart, zieht aus den Regalen immer wieder | |
Nachschlagewerke, liest Wörter vor, die Deutsch klingen und doch keinen | |
Sinn ergeben. | |
Es ist eine Geheimsprache, die kaum mehr jemand kennt, Rotwelsch, die | |
Sprache der Landstreicher und Fahrenden. Und sein Onkel, Günter Puchner, | |
hat beschlossen, sie in diesem Arbeitszimmer vor dem Aussterben zu retten. | |
Der Onkel hat ein Privatarchiv zusammengetragen, so gut wie jedes Buch, das | |
Rotwelsch nur irgendwo erwähnt. Dazu Bände über die Geschichte des | |
Jiddischen, aus dem Rotwelsch viele Wörter entlehnt hat. Und Bücher über | |
Migration und Untergrunddialekte in Berlin, Wien oder Prag. Er hat | |
Zettelkästen angelegt, mit Hunderten Vokabeln und Redewendungen, akkurat | |
mit Schreibmaschine auf Karteikarten getippt, samt hochdeutscher | |
Übersetzung. | |
Und er hat bekannte Stellen der Weltliteratur ins Rotwelsch übertragen: | |
„Ich gable, Krönchen, bei der kauz’gen Lamp“, sagt Romeo da in Shakespea… | |
Balkonszene zu Julia – „Ich schwöre, Fräulein, bei dem heil’gen Mond.“ | |
## „Mit Wörtern rumspielen“ | |
Wenn Martin Puchner heute, mehr als vierzig Jahre später, über die | |
Erinnerungen an seinen Onkel spricht, klingt die Begeisterung des Kindes | |
noch durch. „Das hörte sich alles sehr witzig an. Man konnte mit diesen | |
Wörtern rumspielen, und dass es eine Geheimsprache war, machte es | |
spannend.“ Er freute sich, wenn er Freunden erklären konnte, dass sie | |
Rotwelsch-Wörter verwandten, die ins Deutsche gewandert waren. „Moos“ für | |
Geld, „Bulle“ für Polizist. | |
Er lernte auch Geheimzeichen auswendig, Zinken genannt, verschlüsselte | |
Navigationshilfen für das Leben auf der Straße. Bettler, Hausierer und | |
Fahrende hinterließen sie an Zäunen oder Hausfassaden, um einander | |
mitzuteilen, wo ein bissiger Hund wachte, wo es sich lohnen könnte, um | |
Essen zu bitten. Der Onkel zeichnete die Zinken mit Bleistift auf Papier | |
und erklärte ihre Bedeutung. | |
Anfang der 80er Jahre stirbt der Onkel, ganz plötzlich mit Mitte vierzig an | |
einem Hirnschlag, es ist ein Schock für die Familie. Martin Puchner ist da | |
zwölf. Das geheimnisvolle Arbeitszimmer und die seltsamen Wörter | |
verschwinden aus seinem Leben. | |
Erst viele Jahre später wird er das Erbe des Onkels antreten. Er übernimmt | |
nicht nur die Manuskripte, Zettelkästen und selbst erstellten Wörterbücher, | |
sondern macht sich auch auf die Suche nach der verschwundenen Sprache. | |
Diese Suche wird ihn tief hinein in die eigene Familiengeschichte und | |
Abgründe deutscher Geistesgeschichte führen. | |
## Von Nürnberg nach Harvard | |
Es ist ein kühler, grauer Tag Anfang Mai. Martin Puchner sitzt an einem | |
dunklen Holztisch in der Bibliothek der American Academy in Berlin. Aus den | |
Fenstern blickt man auf den Wannsee, böiger Wind treibt weiße Segelboote | |
vor sich her. Martin Puchner, fünfzig Jahre alt, ist heute Professor für | |
Literatur in Harvard, er hat gerade ein Freisemester. Mit einem Stipendium | |
der American Academy ist er in Berlin, um an einem Buch über seine | |
Rotwelsch-Recherchen zu schreiben. | |
An dem großen Tisch wirkt er sehr schmal, dunkles Hemd, Brille mit grauem | |
Gestell. Beim Reden ziehen seine Hände Linien in die Luft, seine Sätze | |
beendet er oft mit einem nachgeschobenen „Genau“. | |
Nach den Spielereien der Kindheit habe er Rotwelsch fast vergessen, erzählt | |
Puchner. „In der Pubertät ist man ja mit anderem beschäftigt.“ Er wächst… | |
einem Reihenhaus in Nürnberg auf, die Mutter Grundschullehrerin, der Vater | |
– der Bruder des Onkels – arbeitet als Architekt. Nach dem Abitur beginnt | |
er Sprachen und Literatur zu studieren, erst in Konstanz, dann in Bologna, | |
schließlich mit einem Stipendium in Kalifornien. | |
Er interessiert sich für Sprachphilosophie, das Spätwerk von Ludwig | |
Wittgenstein fasziniert ihn, vor allem dessen Satz: „Sprache ist eine | |
Lebensform.“ Er will in den USA bleiben, bewirbt sich für verschiedene | |
Doktorandenprogramme und bekommt einen Platz in Harvard. | |
## Ein Bibliotheksfund mit Folgen | |
Es ist 1995, als er an einem Abend in der Uni-Bibliothek eine irritierende | |
Entdeckung macht. Die Bibliothek von Harvard hat einen legendären Ruf, sie | |
ist das größte Unibibliothekssystem der Welt. Allein im Hauptgebäude, der | |
Widener Library, stehen mehr als drei Millionen Bücher, verteilt auf 92 | |
Regalkilometer in zehn Etagen. Ein Labyrinth, das man am besten nur mit | |
einem Kompass, einem Sandwich und einer Signalpfeife betrete, witzelte eine | |
Historikerin einmal. | |
An diesem Abend ist es spät geworden, erinnert sich Martin Puchner. Er kann | |
sich nicht mehr auf den Text konzentrieren, der vor ihm liegt. Er denkt | |
über die riesigen Bestände nach, auf die hier alle so stolz sind. Er | |
beschließt, die Bibliothek zu testen. Sein Großvater war Archivar und | |
Historiker in München, promovierte 1932 mit einer Arbeit zur Herkunft der | |
Namen oberbayerischer Klöster – was würde Widener wohl von ihm haben? | |
Im Katalog findet er tatsächlich die Doktorarbeit von Karl Puchner, dazu | |
einige Aufsätze zur Namensforschung, untergebracht in einem unterirdischen | |
Raum, Pusey 3, in dem Quellen zur Kirchengeschichte archiviert werden. Er | |
fährt in den Keller, läuft durch einen gekachelten Gang, steigt in einen | |
weiteren Aufzug, fährt noch einmal drei Stockwerke nach unten. Hier, am | |
wohl tiefsten Punkt der Bibliothek, lagern die Texte seines Großvaters in | |
Rollregalen. | |
Er blättert durch die Dissertation, liest einige Seiten an – ziemlich | |
dröges Zeug, selbst für jemanden, der es gewohnt ist, sperrige Texte zu | |
lesen. In einer Zeitschrift des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde | |
findet er einen Artikel von 1934, das Papier vergilbt, die Schrift in | |
Fraktur: „Familiennamen als Rassemerkmale“. | |
## „Verjudung“ und „Tarnnamen“ | |
Als er zu lesen beginnt, erschrickt er. Sein Großvater beklagt in dem Text | |
die „Verjudung unseres gesamten öffentlichen und kultürlichen Lebens“. | |
Viele Juden hätten „Tarnnamen“ angenommen, die deutsch klängen oder | |
ursprünglich deutsch gewesen seien. Um die „fremdrassige Gruppe“ von den | |
„Deutschstämmigen“ nun wieder eindeutig zu trennen, brauche es Experten – | |
die Namensforscher. | |
Der Aufsatz fordert, dass eine „Judenkartei“ angelegt werden müsste, um | |
alle Juden und ihre Namen zu erfassen. Außerdem sollte es Juden verboten | |
werden, ihren Namen zu ändern. | |
Karl Puchner skizziert hier 1934 für sein Fachgebiet ein Programm, das | |
Schritte des Vernichtungswerks der Nazis vorwegnimmt. Vier Jahre später | |
wird ein Gesetz erlassen, das Juden, deren Vornamen nicht jüdisch genug | |
klingen, dazu zwingt, Israel oder Sara als Vornamen anzunehmen, um sie | |
identifizieren zu können. | |
Der Abend in der Bibliothek verstört Martin Puchner. Sein Großvater, der in | |
seinen Erinnerungen in einem großen Sessel sitzt und, ganz altersschwacher | |
Patriarch, mit dem Gehstock die Großmutter herumdirigiert, der gestorben | |
ist, als er noch ein Kind war – dieser Mann war nicht einfach Mitläufer, | |
sondern überzeugter Nazi? Und noch etwas trifft ihn. In dem Text wird auch | |
gegen Rotwelsch gehetzt, die große Liebe seines Onkels, dem Sohn des | |
Großvaters. | |
## Wissen, das die Vergangenheit verändert | |
Das Judentum sei „engstens mit dem Gaunertum verbunden“, weshalb Rotwelsch | |
als Gaunersprache hebräische Wörter nutze, schreibt der Großvater. Er | |
bedauert, dass Ausdrücke aus dem Rotwelsch ins Deutsche gewandert sind. | |
„Leider hat sogar unsere Umgangssprache manche Wörter dieser trüben Quelle | |
entnommen.“ | |
Der nationalsozialistische Namensforscher verachtet alles, was sich mischt. | |
Wie „Rassen“ sollen in seinem Weltbild auch Sprachen möglichst rein und | |
klar getrennt bleiben. Rotwelsch, das sich aus verschiedenen Sprachen | |
bedient, passt da genau ins Feindbild. | |
Es gibt Wissen, das den Blick auf die Vergangenheit für immer verändert. | |
Nach diesem Bibliotheksfund ist sein Großvater für ihn nie mehr nur der | |
Mann im Lehnsessel, erzählt Martin Puchner. Und auch Rotwelsch hat seine | |
Leichtigkeit verloren. Da ist noch die Erinnerung an das Spielerische, aber | |
es stellen sich jetzt auch Fragen. | |
Kannte sein Onkel die Vergangenheit seines Vaters? Hat er sich deshalb so | |
für die verschwundene Sprache engagiert? | |
In den 60er Jahren hatte Günter Puchner begonnen, sich mit Rotwelsch zu | |
beschäftigen. Was zuerst zum Geist von 68 zu passen schien, das Aufmüpfige | |
einer Gaunersprache, nahm nach und nach einen immer größeren Teil in seinem | |
Leben ein. Er hatte Musik studiert, als Komponist von Stücken Neuer Musik | |
erste Erfolge gefeiert. Das gab er auf, um sich irgendwann ganz der Sprache | |
zu widmen. War es der Versuch einer Wiedergutmachung? | |
## Ein Besuch des Vaters | |
Kurz nach dem Abend in der Bibliothek besucht Martin Puchners Vater ihn in | |
Harvard. Sie gehen in einen irischen Pub, rufen gegen den Lärm des vollen | |
Studentenlokals an, sprechen über den Großvater. Er habe von dem Aufsatz | |
nichts gewusst, sagt der Vater, er erinnert sich aber an ein Ereignis in | |
den 60ern. | |
In einer Dunkelkammer vergrößert er damals alte Familienfotos, er will | |
einen Fotokalender machen. Auf einem Bild von 1937 ist Karl Puchner mit | |
einem Anstecker am Revers zu sehen. Als der stark vergrößerte Abzug langsam | |
sichtbar wird, erkennt er: Darauf ist ein Hakenkreuz. Er erzählt es seinem | |
Bruder, zusammen konfrontieren sie ihren Vater, es gibt Streit. Karl | |
Puchner redet sich heraus, den Anstecker hätten damals alle getragen. | |
In vielen deutschen Familien werden zu dieser Zeit Fragen nach der | |
Nazivergangenheit der Eltern gestellt. Aber danach passiert auch bei den | |
Puchners das, was in den Nachkriegsjahrzehnten so oft passiert: Es wird | |
irgendwann nicht mehr darüber geredet, die Episode gerät im | |
Familiengedächtnis wieder in Vergessenheit. | |
Und Rotwelsch? Dass sich der Großvater und der Onkel jemals darüber | |
unterhielten, sich gar stritten – daran kann sich der Vater nicht erinnern. | |
## „Nimm das Zeug“ | |
Das Gespräch im Pub ist das letzte Mal, dass Martin Puchner mit seinem | |
Vater über die Familie sprechen kann. Einige Monate nach dem Besuch in | |
Harvard hat sein Vater einen Segelunfall. Auf einem bayerischen See | |
kentert sein Boot in einem Sturm. Er trägt eine Rettungsweste, ist aber so | |
in die Leinen verheddert, dass sie ihn unter Wasser halten. Als der | |
Rettungshubschrauber eintrifft, ist es zu spät. | |
Die Zeit danach beschreibt Martin Puchner heute als „Nebel“, er kann sich | |
nicht mehr genau erinnern, wie er die Tage nach der Beerdigung, die Wochen | |
zu Hause in Nürnberg verbringt. Er geht öfter zum Grab, spricht dort mit | |
dem toten Vater und kommt irgendwann auch wieder auf Rotwelsch. Der | |
Großvater ist tot, genauso der Onkel, nun auch der Vater. Wen könnte er | |
dazu noch befragen? | |
Er besucht seine Tante, die Witwe seines Onkels, in der Schwabinger | |
Altbauwohnung. Sie spricht, so beschreibt Martin Puchner es heute aus der | |
Erinnerung, nur ungern über Rotwelsch. Für sie hat die Obsession ihres | |
Mannes seine Karriere und die gemeinsame Ehe zerstört. Viele Abende hatte | |
sie mit der Schreibmaschine Wörterbücher erstellt und Vokabeln auf | |
Karteikarten getippt, die ihr Mann ihr diktierte. | |
„Nimm das ganze Zeug mit, ich will’s nicht mehr“, sagt sie zu ihrem Neffe… | |
Es sind sieben Umzugskisten mit den Aufzeichnungen des Onkels, darin | |
Zettelkästen, Kladden, Manuskripte, Briefwechsel, Gedichte in Rotwelsch und | |
selbst verfasste Wörterbücher. Die große Bibliothek mit Hunderten Büchern | |
zum Thema bleibt in der Schwabinger Altbauwohnung. | |
„Für mich war das ein Stück Trauerarbeit“, sagt Martin Puchner. „Ich f�… | |
mich so auch meinem Vater näher, wenn ich die Aufzeichnungen meines Onkels | |
anschaute.“ Er verschifft die Kisten nach Massachusetts, nimmt sie bei | |
jedem Umzug mit, stellt sie immer wieder auf den Dachboden. „15-mal habe | |
ich sie sicher umgezogen.“ | |
## Die Geschichte der Geheimsprache | |
Als Literaturwissenschaftler ist er es gewohnt, viel Zeit in Archiven zu | |
verbringen. Er beschäftigt sich zunächst mit Sprachphilosophie und Theater, | |
wird später Herausgeber der renommierten „Norton Anthologie der | |
Weltliteratur“ und forscht dazu, wie mündliche Erzählungen erstmals | |
niedergeschrieben wurden, wie Literatur ursprünglich entstand. Auf Deutsch | |
ist gerade sein Buch „Die Macht der Schrift“ erschienen. | |
Es dauert aber Jahrzehnte, bis er sich daran wagt, sich Rotwelsch mit | |
derselben Akribie zu widmen. Seit knapp fünf Jahren arbeitet er an einem | |
Manuskript, in dem er die Geschichte der Geheimsprache und die seiner | |
Familie rekonstruiert, die so eng damit verwoben ist. An der American | |
Academy will er das Buch beenden, eine erste Fassung konnte die taz für | |
diesen Text einsehen. | |
Im Spätmittelalter entsteht Rotwelsch als eine Mischung aus Deutsch, | |
Jiddisch und Hebräisch. Streng genommen gilt es nicht als richtige Sprache, | |
weil es keine eigene Grammatik besitzt, sondern die deutsche nutzt. Nur die | |
Bedeutung der Wörter ist verdreht. | |
Eine erste Hochphase erlebt Rotwelsch nach dem Dreißigjährigen Krieg, als | |
zahlreiche entlassene Söldner und heimatlos Gewordene herumziehen, | |
zeitweise bis zu einem Viertel der Bevölkerung. | |
## Erkennungszeichen eines bestimmten Milieus | |
Rotwelsch ist das Erkennungszeichen eines bestimmten Milieus – und eine | |
rein gesprochene Sprache. Die wenigen schriftlichen Quellen, die | |
existieren, stammen von erbitterten Rotwelsch-Gegnern. In den Kisten, die | |
Martin Puchner von seinem Onkel übernimmt, finden sich Aufzeichnungen | |
mehrerer Generationen von Polizisten, die versucht haben, die Sprache zu | |
entschlüsseln. | |
Er ist skeptisch bei diesen Quellen, in die Dokumente sind alte | |
Herrschaftsstrukturen eingeschrieben, Menschen ohne festen Wohnsitz gelten | |
schnell als kriminell – und trotzdem sind diese Aufzeichnungen oft die | |
einzige Möglichkeit, die Entwicklung der Sprache zu verfolgen. | |
Zu jenen, die Rotwelsch schon früh bekämpfen, zählt auch Martin Luther. | |
1528 gibt er ein „Buch der Vaganten“ neu heraus, das „Liber vagatorum“.… | |
ursprüngliche Autor ist unbekannt. Das Buch warnt vor Tricks und | |
Täuschungen, die Bettler nutzen, um Almosen zu erschleichen. | |
Luther fügt dem „Liber vagatorum“ eine Liste mit Rotwelsch-Begriffen und | |
ihre Übersetzung hinzu. Und er schreibt ein Vorwort. Darin heißt es: | |
Rotwelsch komme „von den Juden“, was in Luthers Welt mit seinem manifesten | |
Antisemitismus nichts Gutes bedeutet. | |
Auch wenn aus dem Jiddischen und Hebräischen viele Wörter entlehnt und mit | |
einer neuen Bedeutung versehen wurden, waren die Rotwelsch-Sprecher, nach | |
allem was man heute weiß, in der Mehrheit nicht jüdisch. [1][Luther | |
begründet hier eine antisemitisch aufgeladene Erzählung, auf die im | |
Nationalsozialismus Karl Puchner und andere zurückgreifen]. | |
## Regionale Rotwelsch-Dialekte | |
Im 18. und 19. Jahrhundert benutzen nicht nur Landstreicher und Hausierer, | |
sondern auch Mitglieder von Räuberbanden Rotwelsch, daher sein Ruf als | |
Gaunersprache. Ende des 19. Jahrhunderts werden viele Rotwelsch-Sprecher | |
sesshaft – teils freiwillig, teils von den Behörden dazu gezwungen. Das | |
Rotwelsch-Vokabular vermischt sich mit regionalen Mundarten, [2][es | |
entstehen zahlreiche Rotwelsch-Dialekte]. | |
Die Nazis verwandeln eine lebendige Sprache dann in eine sterbende, indem | |
sie das Milieu zerstören, das sie spricht. Fahrende, Landstreicher, | |
Kleinganoven – nach 1933 gelten diese Menschen als „Ballastexistenzen“ od… | |
„Asoziale“, sie zählen zu den Ersten, die in Konzentrationslager gesperrt | |
werden. Mit ihnen verschwindet ihre Art zu leben – und ihre Sprache. | |
„Der Versuch meines Onkels, mit dem Niederschreiben und der Übersetzung | |
klassischer Literatur eine Sprache zu retten, ist auch ein Kunstprojekt, | |
weil es diese Form der Fixiertheit beim Rotwelsch so nie gab“, sagt Martin | |
Puchner. Er selbst könne Rotwelsch zwar teils lesen, die Bedeutung | |
einzelner Wörter herleiten. „Aber ich kann kein Gespräch darin führen. Mit | |
wem auch?“ | |
Zu seinen Recherchen gehört für ihn aber nicht nur die Geschichte der | |
Geheimsprache, sondern auch die seines Großvaters. So gründlich er sucht: | |
Er findet keinen anderen Text des Großvaters, der Rotwelsch noch einmal | |
erwähnt. Und auch keinen weiteren, der so antisemitisch durchtränkt ist. In | |
einem Aufsatz aus den 1930er Jahren gibt es zwei, drei Absätze im selben | |
Stil, dann nichts mehr. | |
Nach 1945 macht Karl Puchner Karriere, 1960 steigt er zum Direktor des | |
bayerischen Staatsarchivs in München auf. Außerdem unterrichtet er | |
Namensforschung am historischen Seminar der | |
Ludwig-Maximilians-Universität. | |
## Die Akte von Karl Puchner | |
Um sich seinem Großvater anzunähern, macht Martin Puchner das, was sein | |
Beruf ist – er sichtet alte Dokumente und Texte. „Ins Bayerische | |
Staatsarchiv bin ich 2016 einmal reinmarschiert und habe nachgefragt, was | |
die zu meinem Großvater haben“, erzählt er. | |
Die Mitarbeiter sind zu ihm sehr freundlich. „Ihr Großvater war ja | |
Direktor, natürlich haben wir da einiges.“ In einem Lesesaal wartet er eine | |
Weile, dann fährt ein Mann einen Rolltisch vor, darauf Stapel von Papieren, | |
Hunderte von Seiten, die Akte von Karl Puchner. | |
Darin finden sich Beurteilungen des jungen Archivars aus den 30er Jahren. | |
Vorgesetzte loben ihn als fleißig, energisch, eine positive Erscheinung. Im | |
selben Ordner liegt aber auch ein Formular, mit dem Karl Puchner mitteilt, | |
dass er der NSDAP beigetreten ist, Mitgliedsnummer 267.450, Beitrittsjahr | |
1930. Drei Jahre vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. | |
Trotz seines bisherigen Wissens – der frühe Beitritt trifft Martin Puchner. | |
Zuvor hatte er sich gefragt, ob der Großvater nur als Karrierist die | |
Nazi-Ideologie übernommen hatte, ohne daran zu glauben. Nun bleibt | |
eigentlich kein Zweifel, er muss ein überzeugter Nazi gewesen sein. | |
Seiner Karriere im Staatsarchiv hilft das politische Engagement, 1934 | |
bekommt er direkt nach der Referendarzeit eine Stelle, noch zeitlich | |
befristet. In den Begründungen für kleinere Beförderungen weisen | |
Vorgesetzte lobend auf den frühen Parteieintritt hin. | |
## Plötzlich nur noch Mitläufer | |
1939 wird Karl Puchner eingezogen, an der Westfront verwundet. Er übernimmt | |
Archivaraufgaben in den besetzten Niederlanden. Über den Krieg erzählen die | |
Papiere im Staatsarchiv wenig. Mehr über die Zeit danach: Sie zeigen, wie | |
Karl Puchner härteren Strafen bei der Entnazifizierung entging. Er will | |
jetzt nur noch Mitläufer gewesen sein. | |
In einer Erklärung vom Juli 1945 schreibt er, er sei der NSDAP erst 1933 | |
„auf ausdrücklichen Wunsch meines Chefs“ beigetreten. Er habe zwar 1930 | |
„einer Hitlerversammlung in München als junger Student“ beigewohnt, dort | |
auch seine Adresse in eine Liste eingetragen, aber nicht die Mitgliedschaft | |
beantragt. | |
Und die niedrige Mitgliedsnummer? Der Großvater schreibt: „Ich kann mir das | |
nur so erklären, dass die Ortsgruppe der Partei 1930 meine Anschrift | |
weitergab in dem Bestreben, möglichst viele Mitglieder aufweisen zu | |
können.“ Er präsentiert auch einen Mitgliedsantrag von 1933. Was er | |
verschweigt: Es war sein zweiter Aufnahmeantrag, seine bisherige Ortsgruppe | |
hatte sich zu diesem Zeitpunkt aufgelöst. | |
Mit Beginn des Kalten Kriegs lässt das Interesse der Amerikaner an einer | |
konsequenten Entnazifizierung in ihrer Besatzungszone spürbar nach. Davon | |
profitiert auch Karl Puchner. Seine Vorgesetzten setzen sich für ihn ein. | |
Im Mai 1948 wird er als „Mitläufer“ eingestuft und zur Zahlung von 600 Mark | |
verurteilt. Er erhält seine alte Stelle zurück, bald darauf wird er | |
verbeamtet. | |
## Die Macht von Archiven | |
Während er in der Nazizeit für sein Fachgebiet eine herausgehobene | |
Bedeutung beanspruchte, weil es so nützlich beim Aufspüren von „Tarnnamen“ | |
sei, gibt er sich nun demütig. In seinen Arbeiten betont er fortan, dass es | |
sich bei der Namensforschung lediglich um eine Hilfswissenschaft handle, | |
dass es darum gehe, für andere Historiker die Quellen zu erschließen. Über | |
Rotwelsch schreibt er nie mehr. | |
Was seinen Enkel auch irritiert, als er die Dokumente sichtet: Der | |
Großvater war mehr als zehn Jahre lang Direktor dieses Staatsarchivs, er | |
hätte leicht Unliebsames aus der eigenen Akte verschwinden lassen können. | |
„Dafür war er aber wohl zu sehr Archivar“, sagt Martin Puchner. „Sämtli… | |
Familienmitglieder hätten diese Akte einsehen können, aber man macht das | |
vielleicht nur, wenn man wie ein Wissenschaftler denkt und arbeitet.“ | |
Die Recherche in der eigenen Familie lässt Martin Puchner die Macht von | |
Archiven spüren. Das, was er da erfährt, ändert seine Sicht auf die eigene | |
Vergangenheit. Er erlebt aber auch die Grenzen der Akten und alten Texte. | |
Manches lässt sich nicht beantworten. | |
So findet er keinen Beleg, dass die Rotwelsch-Besessenheit des Onkels eine | |
direkte Reaktion auf die Vergangenheit des Großvaters war. Briefe des | |
Onkels aus den 70ern, in denen er bei einem Verleger für ein Rotwelsch-Buch | |
warb, belegen, dass er dies als Beitrag zur [3][Nazi-Aufarbeitung] verstand | |
– aber hatte das etwas mit seinem Vater zu tun? | |
## Worüber die Dokumente schweigen | |
Und noch eine Frage beschäftigt Martin Puchner: Wie dachte der Großvater | |
nach 1945 über die eigene Vergangenheit? Blieb er ein überzeugter Nazi, | |
ohne sich je wieder dazu zu äußern? Oder bereute er sein Handeln? Aus den | |
Dokumenten lässt sich das nicht rekonstruieren. | |
Es gibt noch ein Familienmitglied, das mehr darüber wissen könnte, die | |
einzige Tochter des Großvaters, die jüngere Schwester von Martin Puchners | |
Onkel und Vater. Doch sie direkt darauf anzusprechen – davor schreckt | |
Martin Puchner zurück, als er ihr bei einem Treffen gegenübersitzt. | |
Er hat selbst erfahren, was das Wissen um die Vergangenheit bewirken kann. | |
Hat er das Recht, ihren Blick auf den eigenen Vater und alle Erinnerungen, | |
die damit verbunden sind, so grundlegend zu verändern? Er sagt nichts. | |
Im Sommer kehrt Martin Puchner aus Berlin nach Harvard zurück. Er schickt | |
eine E-Mail mit Fotos, auf denen man die Zettelkästen und Stapel mit | |
Rotwelsch-Gedichten des Onkels sieht. Sie sind auf einem Tisch in seinem | |
Arbeitszimmer verteilt. „Ich bin besonders erfreut, jetzt das gesamte | |
Archiv wieder vor mir zu haben“, schreibt er dazu. Es klingt, als spreche | |
er von Familienmitgliedern. | |
6 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Martin-Luther-im-Nationalsozialismus/!5402184 | |
[2] /Alltag-der-Jenischen/!5333111 | |
[3] /!t5008316/ | |
## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
## TAGS | |
Rotwelsch | |
Sprache | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Familiengeschichte | |
Judentum | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Antisemitismus in der Sprache: Da schwingt was mit | |
In die deutsche Sprache werden gern jiddische Wörter eingestreut. Oft | |
bereichert das die Sprache. Aber einige Wörter werden antisemitisch | |
aufgeladen. | |
LGBTI-Community in der Türkei: Früher geheim, heute Mainstream | |
Lubunca, die Sprache der LGBTI-Community, entstand im ausgehenden | |
Osmanischen Reich. Früher diente sie dem Schutz, heute ist sie Popkultur. | |
Alltag der Jenischen: Die Unsichtbaren | |
Jenische? Nie gehört? Eine reisende Minderheit, über die nicht viel bekannt | |
ist, kämpft in Baden-Württemberg um ein eigenes Kulturzentrum. |