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# taz.de -- Diskussion über den Autor W. G. Sebald: Sein Antrieb war das Besse…
> W. G. Sebalds Werk wird bis heute kontrovers diskutiert. Uwe Schütte
> widmet sich in „Annäherungen“ dem 2001 verstorbenen Schriftsteller.
Bild: Literaturwissenschaftler, Autor, hochsensibel: W.G. Sebald (1944-2001)
Im angelsächsischen Raum dominiert das Narrativ vom „guten Deutschen“ W. G.
Sebald, der nach England auswanderte und sich der historischen Schuld
seiner Landsleute qua einfühlsamer Erinnerungsprosa stellte. Etwas anders
ist es in Deutschland. Viele ärgern sich über Sebalds wiederholte Polemik
gegen einheimische Autorenprominenz.
So hat 2012 Fridolin Schleys Dissertation „Kataloge der Wahrheit“
versucht, dem 2001 verstorbenen Störenfried ein eigennütziges Verhalten
feldstrategischer Art nachzuweisen. Nur scheinbar der Wahrheitsliebe
verpflichtet, sei es dem in Norwich lehrenden Literaturwissenschaftler beim
Abwerten kanonisierter Autoren in Wirklichkeit um Selbstinszenierung als
akademischer Ketzer gegangen. Und später, in seiner Doppelrolle als
Germanist und Schriftsteller, darum, durch Herabsetzung von Erzählern der
Gruppe 47 die legitime Holocaustliteratur zu monopolisieren.
Ausgeweitet hat die Vorbehalte vor drei Jahren der Literaturwissenschaftler
Mario Gotterbarm. Für ihn ist das Image vom sensiblen Erinnerungskünstler
nicht nur deshalb falsch, weil Sebalds Literaturkritik den betroffenen
Schriftstellern „hermeneutische Gewalt“ antat. Auch in den Erzählungen habe
der vermeintliche Moralist Gewalt ausgeübt – indem er als impliziter Autor
ins Leben jüdischer und nichtjüdischer Realpersonen einwanderte, ihr
biografisches Material auf „unmoralische Art“ verbog.
Schweres Geschütz. Bei so viel Eifer findet man eine Stelle im neuen
Essayband von Uwe Schütte zu Sebald besonders interessant: „Für eine
Dissertation, so erklärte mir Sebald, sei es eine gute Strategie, sich
einen Autor zu suchen, den man verachte; dies nämlich gebe Energie, sich
der lustvollen Demontage von dessen Werk zu widmen.“ Wenn jemand diesen Rat
beherzigt hat, dann die Verächter W. G. Sebalds. Klassischer
Bumerangeffekt, der Getadelte verurteilte ja selbst gern pauschal.
## Stärken und Schwächen des Œuvres
Wie aber verhält sich Schütte zur heillos polarisierten Diskussion um
seinen Doktorvater? Klug, weil er sowohl zum Abfälligen als auch zum
Hagiografischen Abstand hält, lieber die Punkte herausmeißelt, die Gegner
wie Verehrer übersehen. Den Unparteiischen gibt er nicht, begründeten
Respekt für seinen Lehrer an der University of East Anglia zeigt er
durchgehend. Und doch gleiten die sieben Essays nie ins Süßliche ab, sieht
er Stärken und Schwächen eines Œuvres, das ihm, merkt man schnell, vertraut
ist wie das eigene Wohnzimmer.
Nehmen wir die berüchtigte Abrechnung mit Alfred Andersch – 1993 warf
Sebald dem Schriftsteller vor, sein Verhalten während der NS-Zeit
beschönigt zu haben. Zu Recht betont Schütte, dass sie bei allem
Unzutreffenden und Überzogenen einen wahren Kern enthielt, nur Sebald den
Hang der 47er-Ikone erkannte, politisch und moralisch kompromittierendes
Verhalten im NS später umzuschreiben. Bestätigen lässt sich das zumindest
für die extrem selektive Selbstdarstellung in „Die Kirschen der Freiheit“
und das Widerstandsmärchen „Sansibar“. Sebalds Konkurrenzverhältnis zur
Nachkriegsliteratur deutet Schütte vorteilhafter als die Gegner: In der
Anklage gegen Schriftsteller, die ihm missfielen, ging der Herausforderer
oft zu weit, doch legte er so Fehler offen, die anderen
Literaturwissenschaftlern nie aufgefallen waren.
Auf den Umgang mit Andersch und seine bis heute eingeschnappte Gemeinde
passt der Befund. Aber ihn aufs Bekritteln von Jurek Becker übertragen? Tut
Sebald „Jakob der Lügner“ als „melodramatischen Genreroman“ ab, schein…
das weniger von kompromissloser Wahrheitssuche zu zeugen als von Anmaßung,
Preis eines normativen Literaturverständnisses. Abgesehen davon, dass die
abschätzige Etikettierung den Plot des Erfolgswerks verzerrte, beurteilte
der Kritiker es nach einem Dokumentarismusideal, das Becker gar nicht
beansprucht hat.
Einen Ghetto-Überlebenden über den wahrhaft realistischen Ghetto-Roman
belehren zu wollen, war keine gute Idee. Andererseits überzeugt Schütte,
wenn er die produktive Seite normativer Ästhetik hervorhebt. Was Sebald den
meisten deutschen Nachkriegsautoren absprach, die angemessen drastische
Wiedergabe des Bombenkriegs, lieferte er in „Luftkrieg und Literatur“
selbst, durch eine furiose Beschreibung des Hamburger Feuersturms im Juli
1943. Fluchtpunkt seiner Unduldsamkeit war das Bessermachen, könnten
Skeptiker einmal bedenken.
## Gegen vorschnelles Schubladisieren
So antizyklisch wie die tendenzielle Ehrenrettung des Literaturkritikers
wirkt Schüttes Biografismus. Er erprobt die vom Lehrer geschätzte, aber im
literaturwissenschaftlichen Mainstream verpönte Methode, Literatur als
Ausdruck der Lebensumstände des Autors zu verstehen. Sie auf Sebalds Werk
anzuwenden erweist sich als ergiebig, es korrigiert vorschnelles
Schubladisieren.
Der zentrale Punkt im Leben von W. G. Sebald, lernen wir, ist der Tod des
geliebten Großvaters im April 1956. Nicht der Holocaust, wie viele meinen,
sondern der nie überwundene Verlust von Großvater Josef Egelhofer, eine Art
Ersatzvater für ihn, bildet das zur literarischen Trauerarbeit führende
Trauma. Erhärtet wird das durch aussagekräftige Zitate besonders des späten
Sebald.
Obendrein hat Schütte im Marbacher Archiv den unveröffentlichten
Jugendroman aufgestöbert; Vorname des autobiografischen Protagonisten:
Josef. Zeitlebens, so die These, bleibt Sebalds Schreiben rückgebunden an
die „schreckliche Urszene“ von Egelhofers Sterben, da sie den
Schriftsteller erst dazu bringt, sich mit den Verlusterfahrungen anderer
auseinanderzusetzen, der Opfer der Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert. Die
paradoxe Haltung des 68ers zu seiner „Schuld“ an den Naziverbrechen
entspricht der „Konstellation, die er am Totenbett des Großvaters empfand:
schandhafte Schuld über den Tod, für den er doch keinerlei Verantwortung
trug“. Plausibel werden die Auswirkungen der Urszene besonders durch die
Stärke des Motivs Überlebensscham in „Die Ausgewanderten“.
Tonfall und Vokabular der Sprache Egelhofers fand Sebald in Texten von
Autoren wie Adalbert Stifter und Gottfried Keller wieder – dies der Weg zur
Schönheit gewollt altmodisch klingender Prosa. Noch folgenreicher, dass
Egelhofer auf den gemeinsamen Wanderungen im Allgäu den Enkel in die
Mysterien der Natur einführte und Ehrfurcht vor der Kreatur lehrte.
Detailliert wie nie lernen wir Sebald als Baumliebhaber und Tierfreund
kennen, privat wie literarisch. Wobei nicht nur deutlich wird, dass man der
Naturethik in seinen Texten, zuvorderst in „Die Ringe des Saturn“,
buchstäblich auf Schritt und Tritt begegnet. „Annäherungen“ unterstreicht,
dass die mit ihr verbundene Zivilisationskritik neben dem konsensfähigen
Lamento über Industrialisierung als Kahlschlag auch Kontroverses enthält.
Wenn Sebald Schlachthofsterben und Genozid verkettet, industriellen
Heringsfang und Holocaust einander annähert, fabrikmäßige Ausrottung als
gemeinsamen Nenner beschreibt, hat er – gelinde gesagt – mit
Zustimmungsproblemen zu rechnen. Wiewohl Schütte betont, dass die
einschlägigen Äußerungen den herzlosen Umgang mit Tieren verurteilen
sollen, nicht den Genozid am europäischen Judentum in der
Menschheitsgeschichte relativieren, ist es ihm klar: Bereits mit dem
Assoziieren, der Verortung des Holocausts in einer umfassenderen
Naturgeschichte der Zerstörung, schert dieser Autor aus einem
linksliberalen Konsens aus.
## Grundgefühl Heimatlosigkeit
Eindringlich schildert Schütte das Leben eines Unzugehörigen, der sich
weder in Deutschland noch in England ganz zu Hause fühlte. Obgleich Sebald
die Fundamentaldifferenz zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Exil
erzähltechnisch meistens beachtete, in „Austerlitz“ verknüpfte er seine
Biografie mit der des Folteropfers Jean Améry zu kurzschlüssig, eben weil
ihm das Grundgefühl des emigrierten Nazigegners, die Heimatlosigkeit, nicht
unbekannt war.
Weitere Einwände: Wie Sebald mit halbfiktionalen Erzählfiguren zu arbeiten,
in denen Biografien verschiedener Realpersonen verschmelzen, ist
literarisch prinzipiell erlaubt, durchaus nicht unmoralisch. Nur war im
Fall von „Austerlitz“ die Abhängigkeit des Protagonisten vom Lebensweg
einer bestimmten Person, der Jüdin Susi Bechhöfer, zu stark. Dass der Autor
„die dramaturgisch notwendigen Wiederbegegnungen zwischen dem Erzähler und
der Titelfigur als sinnhafte Zufälle verkauft“, macht Schütte auch nicht
glücklich. Das Werk hält er für schwächer als die vorherige Erzählessays,
gemessen am Gros der Gegenwartsliteratur aber immer noch für großartig.
Gespickt ist Schüttes gewandt geschriebenes Buch mit sehr persönlichen
Erinnerungen an einen hilfsbereiten und uneitlen Professor – eine ganz
andere Darstellung als in der FAZ vor drei Jahren. An einen Querkopf, der
am neoliberalen Universitätsregime verzweifelte. Was er 1992 seinem
Vertrauten über die Qualität eines Enzensberger-Auftritts zuflüsterte,
lesen Sie besser selbst. Nur so viel: Näher als mit den „Annäherungen“
werden wir W. G. Sebald wohl nie kommen.
25 Aug 2019
## AUTOREN
Markus Joch
## TAGS
Holocaust
W.G. Sebald
Literatur
Erinnerung
Hans Magnus Enzensberger
deutsche Literatur
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