# taz.de -- Joan Didion neu übersetzt: Der Essay als Lebensform | |
> Hier kennt man ihr letztes Buch "Das Jahr magischen Denkens". Richtig gut | |
> sind allerdings Joan Didions Essays - durch und durch ironisch, trotzem | |
> nie ohne Standpunkt. | |
Bild: Literaturwissenschaftler, Autor, hochsensibel: W.G. Sebald (1944-2001) | |
Joan Didion hat die Essays, die der Claassen Verlag jetzt in neuer | |
Übersetzung herausgibt, vor über 35 Jahren in ihrem Kinderzimmer in | |
Sacramento geschrieben. Hierhin, in das Haus ihrer Eltern, kehrte Didion, | |
die damals mit ihrem Mann in Los Angeles wohnte, zum Schreiben zurück. Die | |
Wände des Zimmers sind rosa gestrichen, Bougainvillea und Efeu überwuchern | |
die Fenster, notierte die heute legendäre Literaturkritikerin der New York | |
Times, Michiko Kakutani, 1979 in ihrer Besprechung. | |
Auf dem Frisiertisch in Joan Didions Mädchenzimmer, berichtete Kakutani, | |
steht eine gerahmte Ansicht der Sierra Nevada. Ein Siedlertrupp aus | |
Illinois überquerte das Hochgebirge Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Weg | |
nach Westen, Richtung Kalifornien. Der Treck wurde am Donnerpass von einem | |
Schneesturm eingeschlossen. Mehr als die Hälfte der Siedler starben. Als | |
die Vorräte aufgebraucht waren, verzehrten sie die sterblichen Überreste | |
derer, die erfroren waren. | |
Didions Urururgroßmutter hatte sich dem Treck angeschlossen, doch beim | |
Humboldt River verließ sie ihn wieder, um mit ein paar anderen Siedlern | |
hinauf Richtung Norden zu ziehen. | |
Didion hob das Foto der Sierra Nevada auf, weil das Unglück vom Donnerpass | |
sie verfolgte. Die Geschichte erzählt, was Didion wieder und wieder | |
erzählen wird: die Geschichte Amerikas, deren Schauplatz die extreme | |
Landschaft des Kontinents ist, eine Geschichte, die von Gewalt und Angst, | |
von Mut und vom Aufbruch handelt. Womit ein wesentliches Merkmal ihres | |
Schreibens genannt ist: ihre radikale Ambivalenz. | |
Joan Didion hat fünf Romane veröffentlicht, außerdem schmale Bücher, die | |
von den politischen Verhältnissen in Lateinamerika und Südostasien erzählen | |
sowie von tablettenabhängigen Schauspielerinnen in Hollywood. Sie hat | |
gemeinsam mit ihrem Mann, dem Schriftsteller John Gregory Dunne, Drehbücher | |
verfasst, weshalb sie so viel über Hollywood weiß, dessen komplexes | |
soziales Regelwerk sie studiert hat, um festzustellen, dass außerhalb von | |
Hollywood ganz ähnliche Regeln gelten. Ihren ersten Job hatte Didion, da | |
war sie Mitte 20, in den Fünfzigerjahren bei der Vogue in New York, in | |
einer Zeit, in der Sylvia Plath für die Mademoiselle schrieb und | |
Modemagazine sich selbst noch ernst nahmen. Sie hat lange für Life | |
geschrieben, und einige der Texte aus dem vorliegenden Band, über Doris | |
Lessing, John Wayne und Howard Hughes, sind für Zeitschriften entstanden. | |
In den USA ist Joan Didion eine große Autorin, eine vielbeachtete Person, | |
die mit Preisen ausgezeichnet wurde. Es gibt viele Artikel und Interviews | |
in den Zeitungen und Magazinen, sie ist im Radio zu hören und tritt im | |
Fernsehen auf. Hier kennen sie nur wenige. Ihr letztes Buch, "Das Jahr | |
magischen Denkens", erzählt vom Tod ihres Mannes, mit dem sie fast 40 Jahre | |
lang verheiratet war, und wurde auch hier von einem größeren Publikum | |
wahrgenommen. Sonst aber gibt es wenig: kurze Erwähnungen, zehn Jahre alte | |
Interviews irgendwo im Internet. Ihre Essays, "Das weiße Album" und "Die | |
Stunde der Bestie", von denen Antje Rávic Strubel jetzt eine Auswahl klug | |
und behutsam neu übersetzt hat, waren hier lange vergriffen. | |
Natürlich liegt dem amerikanischen Leser die amerikanische Geschichte näher | |
als dem deutschen. Aber sonst sind wir ja auch an allem interessiert, was | |
aus den USA kommt. Joan Didion dagegen - eine so zarte Person, dass jeder | |
Journalist, der einmal vor ihr saß, darüber fast erschrickt - übersehen | |
wir. Denn was Didion zu einer großen Autorin macht, sind ihre Essays: eine | |
Form, die uns fremd bleibt. | |
Eine Form, die in der deutschen Literaturgeschichte nicht viele | |
Gewährsleute hat. Adorno und Hans Magnus Enzensberger beklagten sich | |
darüber schon in ihren literaturkritischen Essays, die sie zu den wenigen | |
deutschsprachigen Vertretern dieser Gattung machten. Immer wieder haben | |
hier einzelne Autoren Essays geschrieben, Thomas Mann, W. G. Sebald | |
natürlich, Stephan Wackwitz, um einen Jüngeren zu nennen - doch eine dichte | |
Tradition wie im angelsächsischen Raum gibt es nicht. Wir haben nicht viel | |
Übung mit dieser Art des Schreibens, die weder Fisch noch Fleisch ist. Der | |
Verlag weiß nicht, ob er den Essay in der Sachbuch- oder | |
Belletristik-Vorschau ankündigt, der Buchhändler weiß nicht, in welches | |
Regal er ihn stellt; und die Kritiker, die Texte in die Schubladen ihrer | |
geistigen Hängeregistraturschränke einordnen wollen, können mit dem | |
essayistischen Ich nichts anfangen, das von sich selbst erzählt, aber | |
offenbar doch etwas Exemplarisches meint. Dieses Ich, das sich selbst zu | |
überschätzen scheint, ist bei Didion immer die Hauptfigur. | |
"Egal, wie pflichtbewusst wir niederschreiben, was wir um uns herum | |
beobachten", sagt sie in ihrem Aufsatz "Vom Sinn, ein Notizbuch zu | |
besitzen", "der gemeinsame Nenner ist immer, unverhüllt und schamlos, das | |
unerbittliche Ich." | |
Wir können ja ohnehin nicht unterscheiden zwischen Wirklichkeit und unserer | |
eigenen Sicht auf Wirklichkeit. "Wir interpretieren, was wir sehen. Wir | |
leben von den ,Ideen', mit denen wir gelernt haben, die wechselnden | |
Phantasmagorien einzufrieren, die unsere eigentliche Erfahrung sind." | |
Für Didion ist jede Einsicht eine subjektive, deshalb unterlässt sie es, | |
ihre Ansichten als "objektive" zu maskieren. Sie stellt sich selbst in den | |
Mittelpunkt ihrer Texte, um das Perspektivische ihres Denkens, allen | |
Denkens, sichtbar zu machen. | |
Ihre frühen Texte hat sie in einem so persönlichen, fast intimen Ton | |
geschrieben, dass er viele verwirrte. | |
"1969: Ich sitze in einem Zimmer mit hoher Decke im Royal Hawaiian Hotel in | |
Honolulu und versuche mein Leben neu zusammenzusetzen. Mein Mann ist hier | |
und unsere Tochter, drei Jahre alt. Wir sind hier, auf dieser Insel | |
inmitten des Pazifischen Ozeans, anstatt unsere Scheidung einzureichen." | |
Ob er gewusst habe, dass sie das schreibt, sei ihr Mann oft gefragt worden, | |
wie Didion Jahre später notiert. | |
Er hat es redigiert. | |
Er sei mit der Tochter in den Zoo von Honolulu gegangen, damit Didion daran | |
arbeiten konnte. | |
Denn sie hat ja nicht ihre geheimen Tagebuchaufzeichnungen veröffentlicht, | |
sondern sich für eine Form, eine Erzählperspektive entschieden: für die | |
beschränkte Perspektive eines mehr als unzuverlässigen Ich-Erzählers, der | |
Psychopharmaka nimmt, "schlechte Nerven" und eben Eheprobleme hat. | |
Das macht Didions Texte zu dem, was sie sind: ihre Erzählform ist eine | |
Welthaltung, eine durch und durch ironische, die den Mut hat zur Ambiguität | |
und zum Zweifel am Gesagten. Nie sprechen ihre Texte von Wirklichkeit als | |
Tatsache, sie legen die Willkür und Widersprüchlichkeit ihres eigenen | |
Verfahrens offen. (Das Unglück vom Donnerpass übrigens diente Frank | |
Schirrmacher als Aufhänger für sein 2006 erschienenes Buch "Minimum". Er | |
leitete aus den Verwandtschaftsverhältnissen der verunglückten Siedler eine | |
These ab, die man als bedenkenlose Aufforderung an die Frauen in | |
Deutschland verstehen konnte, möglichst viele Kinder auf die Welt zu | |
bringen, egal um welchen Preis. Ein anschauliches Beispiel dafür, dass wir | |
die Geschichten, die wir hören, unterschiedlich deuten, und man kann sich | |
jetzt spaßeshalber einmal vorstellen, Frank Schirrmacher hätte seine Ideen | |
über Männer und Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft aus der | |
Ich-Perspektive formuliert.) | |
Didion gelingt es, aus dieser ironischen Haltung dennoch einen Standpunkt | |
zu entwickeln. Dennoch muss man nur deshalb sagen, weil das Talent zur | |
Ironie und das zum politischen Denken ja oft als Gegensatz begriffen | |
werden, so dass in der Folge schon bloße Ironiefreiheit als politische | |
Überzeugung durchgeht. Weil das so ist, schreibt Didion vor allem über die | |
Milieus, die glauben, ohne Ironie auszukommen (die amerikanische | |
Innenpolitik ist ein Beispiel, die Frauenbewegung ein anderes). | |
Der Tod der Ironie wurde ausgerufen, notiert sie nach dem 11. September | |
2001, als wir sie vielleicht am bittersten nötig gehabt hätten. | |
"Style is character", hat Didion gesagt, denn für sie ist Ironie keine | |
Form, die einen Inhalt vermittelt, sondern bereits die politische Idee: die | |
liberale Idee im altmodischen Sinne, die mit der heutigen FDP wenig zu tun | |
hat, die das "gute" Amerika ausmacht, die eigenständiges Denken bedeutet, | |
das Nebeneinander vieler Meinungen, die Verwirklichung eines echten | |
Pluralismus, den eigentlichen amerikanischen Traum. | |
In den USA halten Autoren der jüngeren Generation die Tradition des Essays | |
lebendig, entwickeln sie weiter, indem sie mit der Form experimentieren und | |
um immer neue Themen bereichern. Das allgemeine Interesse an der | |
Non-Fiction und ihren unterschiedlichen Formen ist dort größer als hier. | |
Und für viele dieser jungen Autoren waren Didions Texte prägend. A. M. | |
Homes, deren bemerkenswertes Buch "Die Tochter der Geliebten" über ihre | |
Adoptionsgeschichte dieses Jahr im September bei Kiepenheuer & Witsch | |
erscheint, sagt zum Beispiel: "Ich verehre Joan Didion." Dave Eggers gehört | |
zu Didions Bewunderern. Er wurde bekannt durch sein halbfiktives Memoir | |
"Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität", das vom Tod seiner | |
Eltern und den darauf folgenden Jahre erzählt, in denen er seinen jüngeren | |
Bruder großzieht. Und Sloane Crosley, geboren 1978, hat soeben 15 | |
kurzweilige, kluge Essays über das Leben in New York und das Leben in der | |
Gegenwart unter dem Titel "I was told thered be cake" veröffentlicht. | |
Aber auch in den USA haben Autoren es mit ihren Essays manchmal nicht | |
leicht. Wer sich für diese Textform entscheidet, riskiert, missverstanden | |
zu werden. In einem Aufsatz aus dem Band "Die Unruhezone" erzählt Jonathan | |
Franzen in bester essayistischer Manier parallel von seiner Ehekrise, dem | |
Klimawandel und seiner Liebe für das Vögelbeobachten. Michiko Kakutani | |
schrieb dazu in der New York Times: "Es bleibt Franzens Geheimnis, warum | |
jemand ein derartiges Interesse an seiner unglücklichen Ehe, an seiner | |
selbstgefälligen und selbstbezüglichen Gedankenwelt haben sollte, dass er | |
darüber seitenlange Ausführungen lesen möchte." | |
Franzen, in Harvard zu einer Diskussionsrunde eingeladen, antwortete mit | |
einer Unbekümmertheit, die der wahre Luxus erfolgreicher Autoren ist: | |
Michiko Kakutani sei "die dümmste Person in New York City". | |
Joan Didion: "Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben". Aus dem | |
Englischen von Antje Rávic Strubel. Claassen Verlag, Berlin 2008, 304 | |
Seiten, 22,90 Euro. | |
Von Elisabeth Raether erschien kürzlich (zusammen mit Jana Hensel): "Neue | |
Deutsche Mädchen", Rowohlt Verlag | |
17 Jun 2008 | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Raether | |
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Holocaust | |
Schriftstellerin | |
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