| # taz.de -- Notaufnahmelager Marienfelde: Ankommen früher und heute | |
| > Seit über 60 Jahren kommen Schutzsuchende in Marienfelde an – früher | |
| > kamen sie aus der DDR, heute aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. | |
| Bild: Ortstermin Marienfelde: das Übergangswohnheim | |
| Berlin taz | Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit belasteten viele | |
| Berliner*innen. Ausgerechnet jetzt breche eine Sturmflut über sie herein. | |
| Eine Sturmflut, bei der es sich nicht um Naturgewalten, sondern um | |
| individuelle Schicksale handele. So beschreibt ein Politiker die Ankunft | |
| Tausender Schutzsuchender in Berlin. | |
| Es ist nicht 2015 und der Politiker auch kein Vertreter der AfD, wie man | |
| vielleicht vermuten könnte. Es ist der 14. April 1953 und der Politiker ist | |
| Bundespräsident Theodor Heuss. Er hält eine Rede zur Einweihung des | |
| Notaufnahmelagers Marienfelde im Süden von Berlin. Bis 1990 werden hier | |
| 1,35 Millionen Geflüchtete und Übersiedler*innen aus der DDR ankommen und | |
| ihre ersten Tage und Wochen in der Bundesrepublik verbringen. | |
| An diese Geschichte erinnert die Dauerausstellung „Flucht im geteilten | |
| Deutschland“ in der heutigen [1][Erinnerungsstätte Notaufnahmelager | |
| Marienfelde]. Dass die Worte des damaligen Bundespräsidenten an die mediale | |
| Debatte um Flucht und Migration seit dem Sommer 2015 erinnern, ist kein | |
| Zufall. Heuss' Rede von damals war im Heute Teil der performativen Führung | |
| „Ortstermin Marienfelde. Die rettende Insel“. | |
| Sie basiert auf einer Produktion, die 2015 am Maxim Gorki Theater entstand | |
| und setzt sich mit der Geschichte des Notaufnahmelagers vor dem Hintergrund | |
| der aktuellen Flüchtlingssituation auseinander. Denn in Marienfelde kommen | |
| nach wie vor Geflüchtete an. Seit Dezember 2010 betreibt der Internationale | |
| Bund Berlin-Brandenburg (IB) hier das Übergangswohnheim Marienfelder Allee. | |
| Über 700 Menschen, unter anderem aus Syrien, Tschetschenien und | |
| [2][Afghanistan], leben hier auf 40.000 Quadratmetern. | |
| ## Alte Architektur, neue Aufnahmeprogramme | |
| Das Übergangswohnheim besteht aus acht Wohnblöcken des ehemaligen | |
| Notaufnahmelagers. Weitere Gebäude sind heute Mietshäuser. Optisch | |
| unterscheiden sie sich kaum von den Wohnblöcken im Übergangswohnheim, aber | |
| sie liegen außerhalb des Zauns, der das Wohnheimgelände umschließt. Jeder | |
| Wohnblock hat drei Etagen und mehrere Treppenaufgänge. An jedem | |
| Treppenabsatz liegen zwei Wohnungen. Die meisten sind 3-Raum-Wohnungen und | |
| circa 50 Quadratmeter groß. | |
| „Das ist zwar alter Standard, 1953 gebaut, aber die Unterbringung mit | |
| eigenem Bad und Küche ist immer noch besser als in anderen | |
| Gemeinschaftsunterkünften, wo sich die Menschen Mehrbettzimmer teilen | |
| müssen und nur Gemeinschaftstoiletten und -küchen vorhanden sind“, sagt die | |
| Leiterin des Wohnheims, Uta Sternal. Deswegen nehme der IB hier auch | |
| manchmal mehr als 700 Menschen auf. | |
| Die meisten von ihnen sind über das [3][Resettlement des UNHCR oder über | |
| humanitäre Aufnahmeprogramme] nach Deutschland gekommen. „Durch solche | |
| Programme müssen Menschen nicht den Weg über das Mittelmeer und [4][mit dem | |
| Boot] machen“, erklärt Sternal. Außerdem erhalten die Geflüchteten von | |
| Anfang an eine befristete Aufenthaltserlaubnis und müssen nicht das | |
| Asylverfahren durchlaufen. „Sie müssen nicht bangen und können sich sofort | |
| integrieren“, sagt Sternal – und fügt hinzu, dass die Kontingente für die… | |
| Aufnahmen jedoch zu niedrig seien. | |
| Der [5][angespannte Wohnungsmarkt] in Berlin erschwere es den heutigen | |
| Bewohner*innen, das Übergangswohnheim zu verlassen. Es gibt Familien, die | |
| seit Jahren auf dem Gelände leben. Früher verbrachten die Geflüchteten aus | |
| der DDR hier im Durchschnitt etwa zehn Tage, um das Notaufnahmeverfahren zu | |
| durchlaufen. Es bestand aus zwölf Stationen. Dazu zählte eine ärztliche | |
| Untersuchung, die polizeiliche Anmeldung und ein Gespräch mit den | |
| Geheimdiensten der USA, Frankreichs und Großbritanniens. In den Gesprächen | |
| versuchten diese Straffällige und Spione zu entlarven und Informationen | |
| über die DDR von den Geflüchteten zu erhalten. | |
| Beim fürsorgerischen Dienst erhielten die Geflüchteten Freifahrscheine für | |
| die öffentlichen Verkehrsmittel und Essensmarken für die Kantine. Auf dem | |
| Speiseplan standen am 17. September 1961 Kotelett, Gemüsebeilage und | |
| Salzkartoffeln. Zusätzlich gab es einhundert Gramm grobe Mett- oder | |
| Streichmettwurst, einen Beutel Gebäck, Tee und für Kinder einen halben | |
| Liter Kakao, außerdem täglich bis zu 400 Gramm Brot und 50 Gramm Fett. | |
| Eine Lagerordnung regelte das Zusammenleben. Sie verbot unter anderem das | |
| Fotografieren sowie das Abnehmen des Stroms im Lager mit elektrischen | |
| Geräten, wie Radios, und das Mitnehmen von Hunden. Die musste man vorher im | |
| Tierheim in Lankwitz abgeben. | |
| ## Symbol für Flucht und Migration in Deutschland | |
| Ab 1964 kamen neben Geflüchteten aus der DDR auch Aussiedler*innen in das | |
| Notaufnahmelager Marienfelde. Auch nach dem Ende der DDR wurde es dafür von | |
| der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Berlin genutzt. Wegen der sinkenden | |
| Zahl von Aussiedler*innen wurde es im Juni 2010 geschlossen. Weil die Zahl | |
| der Asylbewerber*innen jedoch stieg, übernahm der Internationale Bund im | |
| Dezember 2010 den Betrieb. | |
| An das Notaufnahmelager für Geflüchtete aus der DDR erinnern vor allem | |
| Architektur und Ausstattungselemente, etwa die gusseisernen Wannen in den | |
| Bädern der Bewohner*innen. Führungen und Ausstellungen in der | |
| Erinnerungsstätte tragen dazu bei, die Geschichte dieses historischen Ortes | |
| lebendig zu halten. | |
| Seit 1953 beherbergt das Notaufnahmelager Marienfelde fast durchgehend | |
| Schutzsuchende. Damit steht Marienfelde symbolisch für die vielseitige | |
| Geschichte von Flucht und Migration in Deutschland seit dem Zweiten | |
| Weltkrieg. In der Biografie von Uta Sternal vereinen sich zwei dieser | |
| Geschichten: Sternals Vater kam 1958 über das Notaufnahmelager Marienfelde | |
| in die Bundesrepublik, sie ist heute Leiterin des Übergangswohnheims. | |
| Der angespannte Wohnungsmarkt und das strenge Aufnahmeverfahren – vieles | |
| ist heute wie damals. In seiner Rede zur Einweihung des Notaufnahmelagers | |
| sagte Heuss 1953, an die Menschen in der DDR gerichtet: „Wir vergessen euch | |
| nicht. Ihr seid immer in unserem Bewusstsein, weil wir mit euch eins sind.“ | |
| Dieser Zusage können sich viele Schutzsuchende heute nicht mehr sicher | |
| sein. | |
| 19 Aug 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.notaufnahmelager-berlin.de/de/ | |
| [2] /Afghanische-Helfer-der-Bundeswehr/!5025157 | |
| [3] /Umsiedlungsprogramm-der-EU/!5499780 | |
| [4] /Flucht-uebers-Mittelmeer/!5618608 | |
| [5] /Studie-zu-bezahlbarem-Wohnraum/!5602843 | |
| ## AUTOREN | |
| Helena Werhahn | |
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