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# taz.de -- „Estonia“-Gerichtsurteil erwartet: Klage gegen Werft und Gutach…
> Überlebende und Angehörige des Untergangs der Fähre klagen auf
> Schmerzensgeld. Zahlen soll auch die Meyer-Werft, die das Schiff baute.
Bild: Da war noch alles gut: Die Fähre „Estonia“ im Jahr 1992
Hamburg taz | Es war das größte Schiffsunglück in der europäischen
Nachkriegsgeschichte: Am 28. September 1994 machte sich die „Estonia“ von
Tallin in Estland in Richtung Stockholm auf. Der Erste Kapitän Arvo
Andresson fuhr fast mit der Höchstgeschwindigkeit von 36 Kilometern pro
Stunde gegen Windstärke acht an, er hatte 17 Minuten Verspätung. Nach etwa
fünf Stunden ging der erste Notruf ein, wenig später sank die 157 Meter
lange Fähre vor der Südwestküste Finnlands.
852 Menschen starben. Von den 989 Menschen an Bord konnten nur 137 lebend
geborgen werden, 49 weitere tot. Am 19. Juli prüft ein Gericht in Nanterre
bei Paris Schadenersatzansprüche von rund 1.000 Überlebenden und
Angehörigen. Sie fordern 40 Millionen Euro – als Entschädigung für
erlittene psychische Schäden.
Zahlen sollen die Meyer-Werft im emsländischen Papenburg, die das Schiff
1980 gebaut hatte, und die französische Prüfungsstelle Bureau Veritas, die
das Passagierschiff als seetüchtig eingestuft hatte. Die Reederei Estline,
die das Schiff damals betrieb, zahlte nach der Katastrophe 130 Millionen
Euro Entschädigung. 1998 stellte die zuständige Staatsanwaltschaft
Stockholm alle Ermittlungen zur Klärung der Schuldfrage ein.
Experten aus Estland, Schweden und Finnland befanden 1997 in einem
Abschlussbericht der offiziellen Untersuchungskommission, dass das Unglück
aufgrund eines Konstruktionsfehlers der Bugklappe passiert sei. Die Klappe
bildet den Schutzwall hinter dem Bugvisier. Falls dieses abbricht, wie es
bei der für 2.000 Passagiere ausgelegte Fähre der Fall war, soll die Klappe
verhindern, dass kein Wasser auf das Deck gelangt.
## Ungewöhnlich hohe Wellen
Doch 1994 fiel aufgrund der für die Ostsee ungewöhnlich hohen Wellen das
Bugvisier herunter. Die Rampe dahinter wurde aufgerissen und Wasser konnte
ungehindert das Autodeck fluten. „Im Nachhinein betrachtet war diese
Konstruktion technisch unglücklich, zur damaligen Zeit aber regelkonform“,
sagt Stefan Krüger, Professor am Institut für das Entwerfen von Schiffen
und Schiffssicherheit der Technischen Universität Hamburg (TUHH). Forscher
der TUHH rekonstruierten 2005 im Auftrag der schwedischen Regierung
zusammen mit der Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt den Unfallhergang
in einer Computersimulation.
Das Ergebnis war eindeutig: „Es war ein aus technischer Sicht klassischer
Seeunfall. Mehrere Faktoren waren Schuld daran“, sagt Krüger, der die
Sinksimulation durchgeführt hat. „Die Bugkonstruktion war durch den Betrieb
des Schiffes permanent überlastet und mangelhaft gewartet. Das Schiff hätte
so nicht auslaufen dürfen.“
In einer eigenen Untersuchungskommission der Meyer-Werft kamen die
unabhängigen Experten zu einem anderen Schluss als die offizielle
Untersuchungskommission. Die estnische Reederei und die Besatzung seien
verantwortlich, sagten die Forscher. Sie hielten [1][ein
Sprengstoffattentat] für wahrscheinlich. Peter Hackmann, Sprecher der
Meyer-Werft, verweist auf taz-Anfrage auf den Report und nennt zudem unter
anderem den „sehr schlechten Zustand des Schiffes nach 14 Jahren Betrieb
und die viel zu hohe Geschwindigkeit“ als Ursache des Untergangs.
Zu einem eindeutigen Ergebnis kam es nie, Ende der 90er-Jahre wurde das in
80 Metern Tiefe am Ostseegrund liegende Wrack [2][gesetzlich zur
Grabstätte] der über 750 eingeschlossenen Toten erklärt. Seit diesem
Unglück wurden die Sicherheitsvorschriften für Fähren deutlich verschärft.
[3][Seit 2002 gilt in Europa das sogenannte Stockholm-Agreement.] Es
schreibt für ältere Fährschiffe den Einbau zusätzlicher Schotten vor. Diese
sollen verhindern, dass ein Schiff bei Wassereinbruch binnen kurzer Zeit
sinkt, wie es 1994 innerhalb einer halben Stunde der Fall war. „Heutzutage
muss die Möglichkeit, dass auf das Schiffsdeck große Wassermengen gelangen
könnte, bereits beim Entwurf berücksichtigt werden“, sagt Krüger. Eine
konkrete Vorschrift ist, „dass Bugklappe und Bugvisier mechanisch
voneinander entkoppelt sein müssen“.
## Feuer ist heute das Problem
Zudem werden höhere Bemessungslasten angesetzt. Damit werden die
Materialstärken im Bugbereich höher und die Wahrscheinlichkeit einer
Auslastung geringer, erklärt Krüger. Heutiges Hauptproblem bei Fähren sei
eher ein Feuer in offenen Fahrzeugdecks. Wenn dann beim Löschen zu viel
Wasser auf das Deck kommt, besteht die Gefahr, dass das Schiff kentert.
Deshalb wird derzeit das Verbot offener Decks diskutiert. „Ein Unglück wie
das der ‚Estonia‘ könnte heutzutage nicht mehr passieren, zumindest in
Europa ist das sehr unwahrscheinlich“, versichert er. Die Anforderung an
die Sicherheitsstandards der International Maritime Organisation (IMO)
dagegen liegen deutlich unter den europäischen Standards.
Außerhalb von Europa habe sich bei den Sicherheitsvorgaben nichts wirklich
verbessert, meint Krüger. Denn: Die internationalen Sicherheitsregeln
richten sich nach der Anzahl der Passagiere. „Ab etwa 1.350 Passagieren
sind die zukünftigen internationalen Sicherheitsstandards vergleichbar mit
denen in Europa, Probleme gibt es dann aber noch für Schiffe mit einer
zugelassenen Passagieranzahl darunter“, erläutert er. Die europäischen
Regeln, die nach dem Untergang der „Estonia“ geschaffen wurden, gelten
jedoch unabhängig von der Passagieranzahl.
Ab dem Jahr 2020 tritt eine verschärfte internationale Regelung in Kraft.
„Dann werden zwar die Vorschriften für die größeren Fähren durch Druck der
EU auch international erhöht“, sagt Krüger, der Kompromiss beziehe jedoch
die kleineren weiterhin nicht ausreichend mit ein. „Die kleineren Schiffe“,
sagt Krüger, „werden zu wenig beachtet.“
19 Jul 2019
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## AUTOREN
Katharina Gebauer
## TAGS
Schadensersatz
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Schiffsunglück
Fähre
Schwerpunkt Pressefreiheit
Schiffbau
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