# taz.de -- Tour-de-France-Historie: Rad der Geschichte | |
> In Saint-Étienne siedelten sich einst Hersteller an, die die | |
> Fahrradproduktion voranbrachten. Ein Brite trug zu dieser Entwicklung | |
> bei. | |
Bild: Fahrradproduktion in Saint-Étienne im 19. Jahrhundert | |
Das Bild, das Saint-Étienne am stärksten mit der Tour de France verbindet, | |
ist ein martialisches. 1985 stürzte Bernard Hinault beim Zielsprint in | |
Saint-Étienne. Den Sturz sah man damals nicht genau im Fernsehen. Nur | |
Räder, die hochflogen, eine wilde Jagd, die plötzlich gestoppt war. Und | |
dann ein Mann im Gelben Trikot, langsam in die Pedalen tretend, der sich | |
wie in Zeitlupe den Boulevard entlang bewegte. Dabei tropfte ihm das Blut | |
aus der Nase. Blutverschmiert war auch die Wange. Und das gelbe Textil nahm | |
immer mehr vom roten Lebenssaft auf. Hinault hatte sich die Nase gebrochen. | |
Die Etappe ging an Luis „Lucho“ Herrera. Die Tour gewann Hinault trotzdem | |
noch. | |
Nicht wesentlich schneller als Hinault zu Fuß wird sich genau 99 Jahre | |
zuvor der britische Radsportler Herbert Duncan bewegt haben. Duncan war | |
Profisportler, 91 Siege soll er errungen haben, bei Rennen wie den 50 | |
Meilen von Leicester. Arbeitsgerät war damals noch das Hochrad, 1,20 bis | |
1,50 Meter war der Durchmesser des großen hinteren Rads. Die Renner mussten | |
auch Balance-Künstler sein. | |
Duncan war aber nicht nur Sportler, sondern auch ein cleverer | |
Marketing-Mann. 1886, im letzten Jahr seiner Karriere, war er auf | |
Promotion-Tour für den britischen Radhersteller Rudge auf dem Festland | |
unterwegs. Der hatte das Safety Bike herausgebracht, das erste Rad mit zwei | |
gleich großen Rädern und einem Kettenantrieb. Glaubt man Werbeplakaten aus | |
der damaligen Zeit, bot Rudge das Safety sogar als Dreisitzer an, drei | |
Männer auf hintereinander angeordneten Sätteln. | |
In Saint-Étienne traf Duncan aber mit dem klassisch gewordenen Einsitzer | |
ein. Und er begeisterte sofort die einheimischen Bastler. Unter ihnen war | |
Pierre Gauthier. Er stellte in der väterlichen Werkstatt schon seit etwa | |
zehn Jahren Räder her. Hochräder natürlich. „Gemeinsam mit meinem Bruder | |
kaufte ich zwei Räder aus Holz, die von einem alten Rad stammten. Wir | |
bauten sie zu einem neuen Rad zusammen. Wir betrieben damit einen | |
primitiven Radsport mit unseren Freunden. Später verbesserten wir uns, | |
bauten Laufräder aus Metall, das hintere mit einem Durchmesser von 1,20 | |
Metern, das vordere mit einem von 50 Zentimetern. Geld für Kautschuk hatten | |
wir nicht, wir fuhren auf dem blanken Eisen. Wir machten damit sogar | |
Ausfahrten von 25 bis 30 Kilometern“, erinnerte sich Gauthier an die | |
Anfänge, wie in einer Familienchronik nachzulesen ist. Man will kaum an die | |
malträtierten Gesäße denken, nach 30 Kilometern auf blankem Eisen über | |
Wege, deren Oberfläche alles andere als glatt gewesen sein wird. | |
1886 kam der Umschwung. Gauthier sah Duncan auf dem Safety – und baute es | |
nach. „Ich bin ein bisschen mit dem Rad gefahren, habe mir die wichtigsten | |
Bauteile angeschaut – und drei Wochen später war das erste Rad gebaut“, | |
notierte er. Es war, so behauptet es jedenfalls das Museum für Kunst und | |
Industrie in Saint-Étienne, das erste in Frankreich gebaute Fahrrad mit | |
zwei gleich großen Rädern und Kettenantrieb. Der Ursprung der bei der Tour | |
de France gebrauchten Räder ist also britisch. Herbert Duncan, ein dem Adel | |
entstammender Radpionier, war der richtige Vorläufer von Sir Bradley | |
Wiggins und seinem Nachfolger Geraint Thomas. | |
## Das Militär war Großabnehmer | |
Zurück ins Jahr 1886. Gauthier und seine Freunde machten mit dem neuen | |
Gefährt auch gleich große Ausritte. Von Saint-Étienne nach Chambéry und | |
zurück, etwa 260 Kilometer gingen diese ersten Fahrten. | |
Die Gebrüder Gauthier entwickelten schnell auch neue Modelle. Sogar | |
Militärversionen waren darunter. Das französische Militär wurde zum | |
Großabnehmer – passend für Saint-Étienne, denn auch die Rüstungsindustrie | |
war stark vertreten in der Stadt. | |
Andere Fahrradkonstrukteure eröffneten ebenfalls Fabriken – Dombret, | |
Chavanet, Gros, Pichard und Pégoud. Die Marken hießen Ouragan und | |
Hirondelle, Svelt und Wonder – so ist es im 1947 erschienen Aufsatz „Die | |
Fahrradindustrie von Saint-Étienne“ von einem gewissen M. Devun zu lesen. | |
All das geschah noch in den 1890er Jahren. | |
Auch einige technische Erneuerungen wurden in Saint-Étienne entwickelt: | |
vibrationsdämpfende Lenker, bequemere Sättel. Die Fahrradproduktion boomte. | |
1902 wurden in Saint-Étienne und Umgebung bereits circa 150.000 Fahrräder | |
hergestellt, 1913 waren es 200.000 bis 250.000. Saint-Étienne war | |
tatsächlich die Fahrradhauptstadt des Landes, etwa 80 Prozent aller in | |
Frankreich hergestellten Räder wurden hier gebaut. | |
## Die 20er-Jahre als Goldenes Zeitalter | |
Gründe dafür lagen neben dem harten Kern von Pionieren wie den Gebrüdern | |
Gauthier auch darin, dass es in den Rüstungsbetrieben der Stadt genügend | |
ausgebildete Metallarbeiter (und Metallarbeiterinnen, denn viele Frauen | |
arbeiteten damals in den Fabriken) gab und dass Geld für Investitionen | |
vorhanden war. | |
In den 1930er Jahren verdienten etwa 15.000 Menschen in Saint-Étienne ihr | |
täglich Brot mit der Herstellung von Fahrrädern. Mehr als 240 Unternehmen | |
waren in der Industrie- und Handelskammer gelistet, noch einmal so viele | |
waren laut Experten aktiv, ohne dort gemeldet zu sein. | |
Die 1920er Jahre allerdings gelten als das Goldene Zeitalter. Marken wie | |
Mercier und Automoto, Manufrance, Ravat und Velocio eroberten den Markt. | |
Velocio war die Marke des Radtourismus-Pioniers Paul de Vivie. Er | |
entwickelte Räder mit zwei Ketten – ein interessanter Vorläufer der | |
Gangschaltung. Manufrance war nicht nur für Räder, sondern auch für | |
Jagdgewehre berühmt. Ravat baute Fahrräder und Motorräder. Mercier und | |
Automoto sponserten sogar Radteams. Für Automoto fuhr unter anderem Henri | |
Pélissier, der Toursieger von 1923. Pélissier kam recht jung zu Tode: In | |
einem Eifersuchtsdrama erschoss ihn seine damalige Freundin. | |
Tragischerweise mit genau demselben Revolver, mit dem sich wenige Jahre | |
zuvor Pélissiers Ehefrau selbst das Leben genommen hatte. Ob der Revolver | |
aus den Waffenfabriken von Saint-Étienne stammte, ist nicht überliefert. | |
Für die Marke Mercier fuhr unter anderem Raymond Poulidor. „Ich habe mein | |
ganzes Profileben, 18 Jahre lang, mit Mercier-Rädern bestritten. Es waren | |
sehr gute Räder seinerzeit“, erzählt der vielmalige Tour-Zweite, der auch | |
in diesem Jahr Hof hält im Start Village der Tour de France, der taz. Auch | |
er erinnert sich noch, dass Saint-Étienne bis in die 1970er Jahre hinein | |
die Fahrradhauptstadt des Landes war. „Es gab dort Rüstungsbetriebe, viel | |
Textilindustrie mit Frauen an den Nähmaschinen und die Fahrradindustrie. | |
Sehr viele Räder wurden in Saint-Étienne hergestellt“, erinnert er sich. | |
Das Fahrrad hielt stand, trotz der Konkurrenz des Autos. Vor allem in den | |
1950er und 1970er Jahren erlebte der Fahrradmarkt Einbrüche wegen der immer | |
billiger produzierten motorisierten Gefährte. Poulidor erlebte dann | |
schließlich den ultimativen Niedergang der Fahrradindustrie in | |
Saint-Étienne mit: „Dann kamen Marken wie Shimano auf. Die konnten billiger | |
produzieren. Die gesamte Fahrradherstellung verlagerte sich nach Asien.“ | |
Die traditionsreichen Fabriken wurden geschlossen oder erst verkauft und | |
dann geschlossen. Tauchen heute Räder mit der Markenbezeichnung Mercier | |
auf, dann wurden sie in Südostasien gewickelt und verschraubt. Bis in die | |
1990er Jahre immerhin gab es die Marke Vitus. Auf einem Vitus-Rad stellte | |
die französische Radsportlegende Jeannie Longo einen Stundenweltrekord auf. | |
Aber das ist die Ausnahme. Die Fahrräder von Saint-Étienne stehen jetzt | |
eher in der schönen Sammlung des Museums für Kunst und Industrie. | |
Ein allerletztes Aufbäumen gibt es jedoch. In diesem Jahr stellte sich ein | |
junges Unternehmen mit der Marke „1886 cycles Saint-Étienne“ vor, das an | |
die glorreichen Zeiten seiner Stadt anknüpfen will. Das im Retrostil | |
gehaltene Rad wurde im März auf der Designmesse der Stadt präsentiert. Ob | |
es viele Abnehmer in Saint-Étienne selbst haben wird, ist aber fraglich. | |
Denn Radfahren gehört hier eher nicht zum Alltag. Laut einer Studie aus dem | |
Jahre 2017 benutzt nur ein Prozent aller Einwohner der Stadt ein Rad für | |
den Weg zur Arbeit. Der definitive Abstieg einer alten Hauptstadt. | |
13 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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