# taz.de -- Italiens Radsportlegende Gino Bartali: „Ein Schlamm übersäter E… | |
> Gino Bartali gewann 1938 und 1948 die Tour. In den Jahren dazwischen | |
> rettete er mehreren Juden das Leben. Ihn dafür offiziell zu ehren, ist | |
> schwieriger als gedacht. | |
Bild: „Der radelnde Mönch“: Gino Bartali. | |
Gino Bartali war ein Idol, der wohl größte Radfahrer, den das | |
radsportverrückte Italien je hatte. Der Liedermacher Paolo Conte singt von | |
einem Mann, der alles stehen und liegen lassen würde, um Bartali an der | |
Strecke zu sehen. Sein Duell mit Fausto Coppi ist die berühmteste Rivalität | |
der Radsportgeschichte, zwei grundverschiedene Sportler teilten das Land in | |
„Coppisti“ und „Bartalisti“. | |
Bartali glaubte an das Altbewährte, er war ein Mann des Volkes, Coppi | |
strebte stets nach Erneuerung, sein Auftreten hatte etwas Mondänes. Bartali | |
in Italien populär zu nennen, wäre eine Untertreibung. Zwei Mal gewann er | |
die Tour de France, 1938 und 1948, der Krieg stahl ihm die besten Jahre im | |
Sattel. Schon der lange Abstand, eine ganze Dekade, zeigt, Bartali war ein | |
Phänomen, beispiellos. Auch wenn er 2000 in Florenz verstarb – er ist immer | |
noch das Idol der Radsportfans. | |
Er schlug die Massen in seine Bann. Der radelnde Mönch nannte man ihn, den | |
Laienbruder im Karmeliterorden. „Bartali ist ein Mann der Tradition. Er ist | |
ein metaphysischer, von den Heiligen geschützter Mensch“, schrieb der | |
Schriftsteller Curzio Malaparte. | |
Jacques Goddet, wortmächtiger Direktor der Tour de France, war nicht minder | |
fasziniert, als er 1948 das unglaubliche Comeback Bartalis nach | |
zehnjähriger Absenz erlebte: „Aus dem Schneesturm, aus Wasser und Eis stieg | |
Bartali majestätisch wie ein Schlamm übersäter Engel, der unter seiner | |
durchnässten Tunika die kostbare Seele eines außergewöhnlichen Champions | |
trug.“ | |
## „Ich verdanke Bartali mein Leben“ | |
Mit irrwitzigem Tempo raste Bartali durch die Pyrenäen, durch die Alpen und | |
die Dolomiten. Seinen Antritt in den Bergen konnte kaum ein Gegner | |
parieren. Doch es gibt Menschen, die Bartali mehr verdanken als ein paar | |
schöne Stunden an der Rennstrecke, Menschen wie Shlomo Pas, der früher | |
einmal Giorgio Goldenberg hieß und heute nördlich von Tel Aviv lebt. | |
Er sagt: „Ich verdanke Bartali mein Leben.“ Ein Jahr lang versteckte | |
Bartali die Familie Goldenberg. Zuvor war Giorgio ein Jahr in einem Kloster | |
untergekommen. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht war das Versteck nicht mehr | |
sicher. Doch Bartali wusste eine Lösung, Pas erinnert sich: „Meine Mutter | |
kam und holte mich aus dem Kloster. Sie kam und brachte mich zu einem | |
Kellerraum im Haus in Florenz, wo wir uns versteckten. Bartali kam und | |
brachte Essen, denn wir waren in diesem Keller und hatten Angst, | |
herauszugehen.“ Bald stieß auch noch ein Cousin zu den Goldenbergs, zu | |
viert teilten sie das Versteck in einem Hinterhof. | |
Bartali hatte sich einem antifaschistischen Netzwerks angeschlossen. Der | |
Erzbischof von Florenz hatte Bartali selbst eingeweiht in die geheimen | |
Pläne der Widerstandsbewegung. Und Bartali tat, was er am besten kann: Er | |
stieg in den Sattel. | |
## Lange Fahrten waren unverdächtig | |
Er schmuggelte gefälschte Dokumente von Juden. Weil Italiens bester | |
Radfahrer trainieren musste, waren die langen Fahrten unverdächtig, wie | |
sein Sohn Andrea erklärt. | |
„Er war der Kurier. Er versteckte die Papiere im Sattelrohr des Fahrrades | |
oder im Handgriff, alles schön eingerollt. Er hat viel transportiert. Er | |
hat viele Kilometer gemacht. Allein Florenz-Assisi in einem Tag, das sind | |
320, 360 Kilometer.“ Andrea Bartali kämpft darum, daß sein Vater nicht nur | |
als Sportler in Erinnerung bleibt, sondern auch als ein Mensch, der in | |
einer Zeit großer Not das Richtige tat. | |
Auch Giulia Donati, die heute in Karkur eine Autostunde von Tel Aviv lebt, | |
verdankt Bartali viel. Sie stammt aus Florenz, der Vater war ein | |
angesehener Jurist. Als die Deutschen in Italien einmarschierten, fand die | |
junge Frau bei zwei Schwestern Unterschlupf. Eines Abend klingelte es an | |
der Tür. Ein Radfahrer stand draußen, ein nicht allzu großer, drahtiger | |
Mann. | |
Giulia Donati sah bloß seinen Rücken. Die klandestine Unterhaltung war | |
kurz, sie klang vertraulich. Der Mann überreichte ihr einen gefälschten | |
Ausweis und verschwand wieder auf seinem Rad. Erst viel später erfuhr die | |
junge Frau, daß es Bartali gewesen war, ja: Bartali. | |
Natürlich, sie hat ihn gekannt, aus der Zeitung, aus den Filmaufnahmen der | |
Wochenschauen: „A nice man. He knew how to ride a bicycle.“ Nie sah sie ihn | |
von Angesicht zu Angesicht. Gern hätte sie ihrem Helfer gedankt. Sie | |
bedauert, daß es nie dazu zu kam – und sie nicht mehr sagen könne als daß | |
Bartali wohl ihr Leben gerettete habe. | |
Wie Andrea Bartali kämpfen auch Giulia Donati und Shlomo Pas um das | |
Andenken des todesmutigen Radidols. Sie wünschen sich, daß Bartali auch in | |
Israel jene Anerkennung erhält, die er in Italien längst hat. Doch Bartali | |
selbst hat es seinen Nachkommen außerordentlich schwer gemacht. | |
## Beharrlich geschwiegen | |
Denn er hat über seine Rettungstaten beharrlich geschwiegen. Es gibt einen | |
Ort in Jerusalem, an dem an Menschen wie Bartali erinnert wird, Menschen, | |
die ohne Eigennutz und unter Gefahr Juden das Leben gerettet haben. Yad | |
Vashem, die Gedenkstätte der Shoa. | |
„Gerechter Unter den Völkern“ – so wird der Ehrentitel genannt, den Yad | |
Vashem verleiht. Im Talmud werden so Nichtjuden bezeichnet, die im Sinne | |
Gottes handeln – und denen so ein Platz in der kommenden Welt gewiss ist, | |
wenn der Messias gekommen ist. Mehr als 24.000 Menschen sind hier geehrt | |
worden. Vorbilder wie Raoul Wallenberg oder Oskar Schindler, Miep Gies, die | |
Anne Frank versteckt hielt, oder der Krupp-Manager Berthold Beitz. Doch | |
meist sind es Unbekannte. An all diese Helden erinnern die Bäume entlang | |
der Allee im Garten der Gerechten. | |
Es ist nicht schwer, sich in Yad Vashem zu verlieren. An diesem Nachmittag | |
haben sich viele Gruppen hier eingefunden, viele Soldaten sind da. Am | |
Eingang haben sie ihre Maschinenpistolen abgelegt. Sie bilden einen Haufen, | |
wie Holzscheite an einem Lagerfeuer. Dieser Ort ist entwaffnend. In Yad | |
Vashem liegt auch eine Akte Bartali – eine Akte, die noch nicht geschlossen | |
ist, denn die Kommission ist sich uneins, wie Irena Steinfeldt erklärt. | |
Sie leitet die Kommission „Gerechter unter den Völkern.“ Und sie erklärt | |
die Kriterien, die erfüllt sein müssen, um dort aufgenommen zu werden: | |
Rettung von Juden unter Gefahr, „eine bewusste Rettung. Das heißt, dass | |
jemand, der nicht allgemein in einem Widerstand handelt, sondern der | |
bewusst Juden retten wollte. Und natürlich muss es bewiesen werden.“ | |
Zeugenaussagen sind nötig, oder Dokumente. Seit 1963 wird der Titel | |
vergeben. Sein Name ist ein Zitat aus dem Talmud, wonach auch | |
Andersgläubige einen Platz in der gerechten Welt nach der Ankunft des | |
Messias bekommen, wenn sie Gutes getan haben. | |
## Es fehlt an Details | |
An der Rechtschaffenheit des Gino Bartali zweifelt Steinfeld nicht. Und | |
dennoch hakt das Verfahren. Steinfeldt erklärt, es sei sehr oft so, daß | |
„Leute, die Kuriere waren, die Dokumente von einem Ort zum anderen, oder | |
auch Leute von einem Ort zum anderen schmuggelten, daß die nicht | |
identifiziert werden konnten. Wir haben keine Zeugenaussage, daß Bartali | |
nicht nur im Widerstand war, sondern daß er auch bewusst Juden retten | |
wollte.“ | |
Shlomo Pas widerspricht – und zwar vehement. Doch Steinfeldt sagt, es fehle | |
an Informationen, an Details. Die Kommission verlangt Indizien – es ist | |
beinahe wie in einem Gerichtsverfahren: “Wenn ich jemanden bei jemand | |
anderen verstecke, wer übernimmt das Risiko? Wenn die Polizei kommt und | |
Juden in dem Keller findet, wer muss dann dafür haften? Derjenige, dem der | |
Keller gehört!“ | |
Shlomo Pas kann es gar nicht glauben. Und seine Ehefrau Mina auch nicht. | |
Ganz sicher hat der Keller Bartali oder dem Schwager oder beiden gemeinsam | |
gehört: „Er war in Todesgefahr, weil er Juden schützte. Er brachte die | |
Juden in diesen Keller und er sorgte für sie. Er ist wahrscheinlich der | |
Grund, daß ich noch am Leben bin. Warum ist es wichtig, ob er der Besitzer | |
war?“ | |
Doch an den Kriterien könne man nicht rütteln, sagt Irena Steinfeldt – der | |
Titel sei schließlich sehr bedeutend, ein „Nobelpreis für Menschlichkeit.“ | |
Denn hier geht es nur um die gute Tat. Gesinnung spielt ebenso wenig eine | |
Rolle wie Prominenz. Deshalb fragt Irena Steinfeldt: „Interessieren sie | |
sich für einen kleinen Bauern in Polen, der Juden gerettet hat in der | |
gleichen Art? Nein!“ Diese rhetorische Frage verärgert Shlomo Pas. Er | |
möchte wissen: „Was hat ein polnischer Bauer damit zu tun? Meiner Meinung | |
nach ist das eine Schande, daß sie diesen Fall weiterhin offen halten. Die | |
ganze Verzögerung ist eine bürokratische Geschichte.“ | |
Ob Bartali einen Platz im Garten der Gerechten bekommt? Shlomo Pas wünscht | |
es sich genau wie Andrea Bartali, der Sohn des Rennfahrers – obwohl dem | |
Vater Titel und Trophäen gar nicht so wichtig waren. Andrea ist felsenfest | |
überzeugt: „Das hätte er angenommen. Weil er sich für einen gerechten | |
Menschen gehalten hat, für einen Menschen voller Respekt. Diese Ehre hätte | |
er von ganzem Herzen angenommen.“ | |
21 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
S. Osterhaus | |
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