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# taz.de -- Polizeigewalt in Frankreich: Außer Kontrolle
> Frankreichs Sicherheitskräfte haben jedes Maß verloren. Das Gefühl der
> Ohnmacht gegenüber der Staatsmacht radikalisiert den Protest zusätzlich.
Bild: Mit Gummigeschossen geht die französische Polizei gegen Demonstranten vor
In Frankreich hat sich in den letzten Monaten bei Demonstrationen und damit
bei der Meinungsfreiheit in signifikanter Weise etwas verändert. Zuerst für
die Medien: Die Kameraleute, die FotografInnen und ReporterInnen kommen zum
Arbeitseinsatz inzwischen systematisch mit Helm und Schutzmasken
ausgerüstet. Man muss daraus schließen, dass ihre Armbinde mit dem Hinweis
„Presse“ nicht reicht, um sie vor tätlichen Angriffen zu schützen.
Wie die Journalistengewerkschaft SNJ bestätigt, wurden im Verlauf der
Demonstrationen der „Gilets jaunes“ VertreterInnen der Medien von
Polizisten nicht nur in der Ausübung ihrer Berufstätigkeit behindert oder
sogar vorübergehend festgenommen, sondern mehrfach und gezielt attackiert.
Natürlich hieß es dann später von vorgesetzten Stellen, es habe sich da um
ein bedauerliches Versehen gehandelt. Nur häufen sich diese Fälle in zu
offensichtlicher Weise, um dies glaubwürdig erscheinen zu lassen. Über
Demonstrationen live zu berichten ist heute in Frankreich ein Risikojob.
Aber noch viel krasser sieht diese Entwicklung für die TeilnehmerInnen an
Demonstrationen aus.
Die beim Onlinemagazin Mediapart aktualisierte [1][Opferbilanz der Gilets
jaunes] spricht Bände. Von Hunderten ernsthaft Verletzten haben [2][24
Menschen ein Auge (Gummigeschosse) und 5 eine Hand (durch TNT in
Tränengasgranaten)] verloren. In Marseille wurde im Dezember am Rande einer
Gelbwesten-Demonstration die 80-jährige Zineb Redouane von einem Geschoss –
wahrscheinlich einer Tränengasgranate – tödlich im Gesicht getroffen, als
sie im ersten Stock ihr Fenster öffnete. Auf der Gegenseite wurden auch
zahlreiche Polizeibeamte verletzt. Unter den Demonstranten gibt es
zweifellos Leute, die eine gewaltsame Konfrontation suchen. Das kann aber
nicht als Rechtfertigung für unverhältnismäßige staatliche Gewalt
herhalten.
Ein zweites sichtbares Phänomen: Es ist kein Zufall, dass jedes Mal, wenn
die Gilets jaunes oder linke Oppositionsgruppen auf den sozialen Netzwerken
zu Protestaktionen mobilisieren, Gruppen von „Streetmedics“ zur Stelle
sind, medizinische Fachleute, die sich als freiwillige Sanitäter an den
Demos mit Erster Hilfe um Opfer von gewaltsamen Zusammenstößen mit den
Ordnungskräften kümmern. Denn die Polizei setzt beim geringsten Anlass und
meist sehr ausgiebig Tränengas ein und verwendet zudem zum Vertreiben von
Unruhestiftern gefährliche Granaten mit Knalleffekt sowie
Hartgummigeschosse, deren Risiken und sogar letale Verletzungsgefahr beim
Einsatz auf kurze Distanz bekannt sind.
## Fragwürdige Einsatzdoktrin
Die enorme Zahl von schweren Verletzungen aufseiten der Demonstranten
erklärt sich mit einer Hochrüstung der Sicherheitskräfte, die in Europa
ihresgleichen sucht, aber auch mit einer fragwürdigen Einsatzdoktrin. Als
am 28. Juni ein Sit-in auf einer Pariser Brücke 300 friedliche Mitglieder
von „Extinction Rebellion“ für die vom Klimawandel bedrohte Biodiversität
organisierten, wurden sie – wie auf mehreren Videos zu sehen ist – von
einem der uniformierten Polizisten aus kürzester Distanz und direkt in die
Augen mit Tränengas besprüht.
Aus der Sicht der Staatsführung sind die DemonstrationsteilnehmerInnen
sowieso selber schuld, wenn sie mit ihrer Anwesenheit das Risiko einer
Verletzung auf sich nehmen. So argumentierte Präsident Macron
beispielsweise, als im März in Nizza die 73-jährige Geneviève Legay bei
einem rücksichtslosen Polizeiangriff auf eine gewaltfreie Gruppe von
Demonstrierenden schwer verletzt wurde.
Der zuständige Staatsanwalt räumte später öffentlich ein, er habe eine
Schuld der Polizei quasi im Vorhinein ausgeschlossen, um Macron nicht in
Verlegenheit zu bringen. Zudem wurde auch noch bestätigt, dass die Beamtin,
die die Ermittlung führte, die Lebenspartnerin des Polizisten ist, der
Geneviève Legay, ein bekanntes Mitglied von „Attac“, mit seinem Schild
umgestoßen haben soll.
Bisher gab es noch keine einzige gerichtliche Verurteilung wegen
Polizeigewalt. Zwar laufen zahlreiche interne Untersuchungen bei der
Polizei. Dabei aber ermitteln Polizisten gegen Polizisten.
## In der Loire ertrunken
Wohin eine solche Befangenheit führt, illustriert der kürzliche [3][Fall
von Steve Caniço in Nantes]. Er war im Juni bei einem von Zeugen als
unverständlich brutal und gefährlich beschriebenen Polizeieinsatz gegen
eine Techno-Party in die Loire gestürzt und ertrunken. Ohne diese
kontradiktorischen Zeugen auch nur anzuhören, kam der Inspektionsbericht
zum Schluss, zwischen dem Tod von Steve und der Intervention gebe es „keine
Verbindung“ und ohnehin sei die nächtliche Polizeiaktion (mit 33
Gasgranaten gegen 90 Jugendliche an einer Party) „legitim“ und „nicht
unverhältnismäßig“ gewesen. Das wäre allenfalls noch durchgegangen, wenn
nicht, wie heute fast immer, ein Video existierte, das das Gegenteil zeigt.
Muss man daraus schließen, dass die Aufgabe einer solchen internen
„Aufklärung“ in der Regel eher die Vertuschung einer krassen
Fehleinschätzung und absurden Taktik ist? Damit erreichte der Zynismus der
Staatsmacht einen neuen Höhepunkt. Denn eine solche
Gefälligkeitsuntersuchung hat deswegen weit über Steves Freundeskreis
hinaus schockiert, weil mit diesem Freibrief eine geradezu stupide Gewalt
im Nachhinein auch noch als Notwendigkeit behördlich legitimiert werden
soll.
Im Wirklichkeit untergräbt damit der Staat selber die Legitimität seiner
Gewalt zur Aufrechterhaltung einer Ordnung, die den Gilets jaunes und einer
wachsenden Zahl von anderen BürgerInnen zunehmend ungerecht erscheint. Das
Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer selbstherrlichen Staatsmacht kann nur
zusätzlich radikalisieren.
Gewalt ist in Frankreich mehr als in anderen Ländern Europas schon lange
Teil der öffentlichen Auseinandersetzung. Doch wer Übergriffe als
Normalfall durchgehen lässt, banalisiert die Gewalt – bis sich die wütenden
BürgerInnen sagen: Hau mich, und ich schlag dich!
7 Aug 2019
## LINKS
[1] https://alloplacebeauvau.mediapart.fr/
[2] /Polizeigewalt-in-Frankreich/!5569031
[3] /Polizeigewalt-in-Frankreich/!5610209
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Demonstrationen
Übergriffe
Gelbwesten
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Persönlichkeitsrecht
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Gelbwesten
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