# taz.de -- Kein Notdienst in Neukölln: Bitte erst mal nicht ausflippen | |
> Neukölln hat seinen psychiatrischen Notdienst aufgrund von Personalmangel | |
> eingestellt. Der Senat kennt das Problem, bei der Lösung hakt es aber. | |
Bild: Eine psychische Krise kann jede/n ereilen | |
Wenn Menschen in eine psychische Krise geraten und akut Hilfe brauchen, | |
können sie oder ihre Angehörigen sich an den Sozialpsychiatrischen Dienst | |
des Bezirks wenden. Der schickt dann eine Ärztin oder einen Arzt und eine | |
SozialarbeiterIn, die sich vor Ort ein Bild machen, beraten und Hilfen | |
vermitteln. Gefährden Menschen sich oder andere – äußern sie beispielsweise | |
Suizidabsichten –, dann kann der Dienst notfalls auch eine Zwangseinweisung | |
in die Psychiatrie anordnen. | |
Wer zurzeit beim Sozialpsychiatrischen Dienst in Neukölln anruft, der hört | |
allerdings nur eine automatische Ansage vom Band: „Aktuell und bis auf | |
Weiteres ist unser ärztlicher Notdienst nicht besetzt“, erklärt eine | |
Frauenstimme. „Daher wenden Sie sich bitte in dringenden Fällen an die | |
Polizei, die Feuerwehr, das Krankenhaus Neukölln oder den Berliner | |
Krisendienst.“ Man könne auch eine Mail oder ein Fax schicken. Ende der | |
Ansage. | |
Hintergrund ist ein akuter Personalmangel im Neuköllner Gesundheitsamt, | |
erklärt Falko Liecke (CDU), Stadtrat für Gesundheit. Von sechs ärztlichen | |
Stellen im Sozialpsychiatrischen Dienst sind laut Liecke derzeit nur drei | |
regulär besetzt. Diese Ärztinnen hätten Überlastungsanzeigen erstellt. Eine | |
Allgemeinmedizinerin habe kürzlich neu angefangen, sie sei aber keine | |
Psychiaterin und müsse erst eingearbeitet werden. Eine weitere Stelle werde | |
im Herbst besetzt. Eine andere ist offen: Die Ausschreibung habe mangels | |
Bewerbungen verlängert werden müssen, sagt Liecke. | |
Seit Anfang Juli hat der Sozialpsychiatrische Dienst Neukölln daher seinen | |
Notdienst eingestellt. Es hätten sich schon Menschen etwa per Mail | |
gemeldet, denen sie nicht helfen konnten, erzählt Liecke. Sie hätten sie | |
ins Krankenhaus weitergeschickt. „Eingreifen, wenn jemand ausflippt oder | |
suizidale Gedanken äußert, geht derzeit nicht.“ Für die Betroffenen könne | |
das richtig gefährlich werden. „Aber auch für die Kolleginnen ist das ein | |
Riesenproblem“, sagt Liecke. Seine ernüchternde Bilanz: „Wir werden unserer | |
Aufgabe derzeit nicht gerecht.“ | |
Tatsächlich dürfte es für Betroffene in einer psychischen Krise eine | |
gewissen Hürde darstellen, die Polizei oder die Feuerwehr rufen oder sich | |
in die Rettungsstelle einer Klinik aufmachen zu müssen. Der Berliner | |
Krisendienst wiederum geht in dringenden Fällen zwar auch zu den Menschen | |
nach Hause. Der Krisendienst ist aber ein ergänzendes Angebot, die | |
BeraterInnen sind täglich zwischen 16 und 24 Uhr zu erreichen. „Tagsüber | |
können wir das überhaupt nicht auffangen“, sagt Katarzyna Stręk, | |
Mitarbeiterin in der Region Süd-Ost. | |
Anders als die Ärzte des bezirklichen Notdienstes habe der Krisendienst | |
auch keine Hoheit, eine Einweisung in die Psychiatrie anzuordnen, so Stręk. | |
Darüber müsse nun im Zweifel die Polizei entscheiden. Stręk sagt: „Wir | |
können den Sozialpsychiatrischen Dienst nicht ersetzen.“ | |
Für Stadtrat Liecke ist klar: „Um Fachärzte für Psychiatrie und | |
Psychotherapie zu bekommen, brauchen wir eine bessere Bezahlung.“ Die Ärzte | |
im Gesundheitsamt verdienten brutto circa 1.000 Euro weniger als | |
Klinikärzte. Das müsse sich ändern. Andere Bezirke kennen das Problem: Für | |
Ärzte wie für andere Berufsgruppen auch sei die Bezahlung im Bezirksamt | |
nicht attraktiv, sagt Sara Lühmann, Sprecherin des Bezirksamts | |
Friedrichshain-Kreuzberg. „In unserem Sozialpsychiatrischen Dienst sind die | |
ärztlichen Stellen zum Glück besetzt.“ | |
Dem Senat ist der Personalmangel im öffentlichen Gesundheitsdienst längst | |
bekannt. Schon im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag steht: Um die | |
Attraktivität des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) „für | |
Mediziner*innen zu erhöhen, sollen die tariflichen Unterschiede zwischen | |
einer Beschäftigung in den landeseigenen Kliniken und den Einrichtungen des | |
ÖGD beseitigt werden“. | |
Vor einem Jahr machten die [1][Senatsverwaltungen für Finanzen und | |
Gesundheit denn auch einen Vorschlag]: Einzelfallregelungen sollten es den | |
Bezirken ermöglichen, FachärztInnen ein außertarifliches Entgelt | |
anzubieten. Daraus sei bislang allerdings nichts geworden, weil der | |
Hauptpersonalrat, also die Vertretung der Beschäftigten, dem nicht | |
zustimme, sagt die Sprecherin der Finanzverwaltung, Eva Henkel. „Seitdem | |
hängt das.“ | |
## Gefährdet mehr Geld das Tarifgefüge? | |
Der Hauptpersonalrat lehne eine außertarifliche Lösung ab, bestätigt | |
Vorsitzende Daniela Ortmann der taz. Wenn man bei den Ärzten so etwas | |
zugestehe, bekämen als Nächstes Ingenieure und Brückenbauer eine | |
Sonderregelung und so weiter. „Das ganze Tarifsystem franst dann aus“, sagt | |
Ortmann. Aus den Gesundheitsämtern hätten sie zudem gehört, dass solche | |
außertariflichen Regelungen nicht vermittelbar seien. | |
Ortmann schlägt andere Maßnahmen gegen den Personalmangel vor. „Wo ist die | |
Werbekampagne für den öffentlichen Gesundheitsdienst?“ Arbeitsplätze | |
müssten auch von den Räumlichkeiten her attraktiver werden, Stipendien | |
sollten mit einer zeitweisen Beschäftigung im öffentlichen Dienst | |
verbunden werden. Vor allem will Ortmann Spielräume im Tarifvertrag der | |
Länder nutzen. Der sieht vor, dass in Ausnahmefällen Zulagen von bis zu 20 | |
Prozent gezahlt werden können. | |
Das wiederum will die Finanzverwaltung nicht. „Damit bringen sie das ganze | |
Tarifgefüge durcheinander“, warnt nun Sprecherin Henkel. Der oder die | |
Nächsthöhere in der Bezirksamtshierarchie könnte sich bei Zahlung solch | |
einer Zulage benachteiligt fühlen. Die Finanzverwaltung habe deshalb | |
entschieden: 7 Prozent sind bei Sonderzahlungen die Höchstgrenze. | |
Stadtrat Liecke reicht das nicht. Angesichts der Lage im Neuköllner | |
Gesundheitsamt will er in die Offensive gehen: Bei der nächsten | |
Bezirksamtssitzung Ende Juli werde er eine Vorlage einbringen, dass es für | |
die – ebenfalls vakante – Stelle des Leitenden Amtsarztes eine Zulage von | |
20 Prozent geben soll, Kollatz’ Deckelung hin oder her. Liecke sagt: „Wenn | |
ich wegen des Ärztemangels meine gesetzlichen Aufgaben nicht erfüllen kann, | |
dann wiegt das für mich schwerer.“ | |
25 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Antje Lang-Lendorff | |
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