# taz.de -- Nachruf auf Michael Jürgs: Seine Botschaft war messerscharf | |
> Der Publizist Michael Jürgs ist im Alter von 74 Jahren gestorben. Bis | |
> zuletzt hat er gegen die AfD und andere Populisten angeschrieben. | |
Bild: Weinerliches Selbstmitleid einer zerfließenden Branche war ihm ein Gräu… | |
Irgendwie hat Michael Jürgs entscheidende Entwicklungen immer ein wenig | |
eher gespürt als andere. „Wie geht's, Deutschland? Populisten. Profiteure. | |
Patrioten“ hieß sein Buch von 2008, das eine Bilanz der deutschen Einheit | |
zum knapp 20. Jahrestag sein sollte. Da waren es noch fünf Jahre bis zur | |
Gründung der AfD. | |
Gegen die und andere Populisten – von Steve Bannon über Donald Trump bis | |
Victor Orbán – hat er bis zuletzt angeschrieben. Und wenn Jürgs Sätze zum | |
Journalismus schrieb, dann waren das immer Grundsätze. Die geronnene | |
Erkenntnis eines großen publizistischen Lebens, das schon in Münchner | |
Zeiten mit der Auseinandersetzung mit den alten weißen Männern und Nazis, | |
die im bundesrepublikanischen Deutschland der 1960er Jahre immer noch oder | |
wieder obenauf waren, begann. | |
„Die zum Journalismus angemessene Farbe ist nicht Schwarz, nicht Weiß, | |
sondern Grau. Das ist die Farbe des Zweifels. Gegen moralfreie Populisten | |
braucht es in Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunkanstalten und | |
Fernsehsendern, analog wie digital, eine moralische Haltung ebenso wie den | |
Widerstand der Zivilgesellschaft gegen ihre Feinde von rechts und links, | |
von Pegida und AfD bis zum autonomen Block und wieder auferstandenen | |
SED-Bütteln“, hat Jürgs ziemlich genau vor einem Jahr im Handelsblatt | |
geschrieben. | |
Jürgs war kein Zauderer, weinerliches Selbstmitleid einer zerfließenden | |
Branche wie der Zeitungsverlage war ihm ein Gräuel. Seine Botschaft war | |
messerscharf – und positiv. Dass der digitale Wandel Journalismus | |
signifikant verändert, war Jürgs klar: „Für eine freie Welt müssen wir ihn | |
retten – und können es auch.“ | |
Vollblutjournalist, so hohl und leer der Begriff heute scheint, das war im | |
vollsten Sinne Michael Jürgs. Mit 23 wurde der in den letzten Kriegstagen | |
1945 auf der Ostalb Geborene Chef des Feuilletons bei der Münchner | |
Abendzeitung. Die bewies damals glänzend, wie guter Boulevard gemacht | |
wurde, und gab in München noch vor der Süddeutschen den Ton an. Sein | |
Studium hatte Jürgs da schon locker an der Nagel gehängt. Stattdessen | |
entlarvte er angesehene Professoren als NS-Parteigänger; der damalige | |
bayerische Kultusminister und einflussreiche Verfassungsrechtler Hermann | |
Maunz musste zurücktreten. | |
## 68er-Variante mit Münchner Schickeria | |
Diese ganz spezielle 68er-Variante mit mehr als einem Hauch Münchner | |
Schickeria war es wohl auch, warum der Zeitschriftendampfer Gruner + Jahr | |
Jürgs schon bald nach Hamburg holte und nach ein paar Jahren in der | |
Entwicklungsredaktion 1976 zum Unterhaltungschef des Sterns machte. 1986 | |
stieg Jürgs zum Chefredakteur auf und führte das vom Skandal der | |
gefälschten Hitler-Tagebücher gebeutelte Magazin zu neuer, wenn auch | |
bescheidenerer Blüte. | |
1990 war beim Stern Schluss, offiziell wurde Jürgs, der aus seiner Skepsis | |
in Sachen deutscher Einheit nie einen Hehl gemacht hatte, wegen der | |
Stern-Schlagzeile „Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind?“ gekegelt. Jürgs | |
ging lieber im Krach, als klein beizugeben, und fand bei Tempo neues, | |
zeitgeistiges Glück. Mitte der 1990er war auch hier Schluss. Jürgs war | |
seitdem freier Publizist und Buchautor. | |
Die erste wirklich kritische Axel-Springer-Biografie stammt aus seiner | |
Feder und beleuchtete den Verleger auch von seinen esoterischen und weniger | |
festschrifttauglichen Seiten. Wie wichtig dieser Beitrag von Jürgs für die | |
deutsche Medienlandschaft war, mag man daran erkennen, dass der | |
Zeitungsverleger-Verband angeblich bei der Theodor-Wolff-Preis-Verleihung | |
vor gerade mal zehn Tagen in vorauseilendem Gehorsam versucht hatte, die | |
entsprechenden Passagen zur Springer-Biografie aus der Laudatio von Michael | |
Naumann auf Jürgs zu tilgen oder sie wenigstens zu entschärfen. | |
Auch das passt zum vollen, aber nicht auf Preislametta schielenden Leben | |
des Publizisten Michael Jürgs: Bis zu diesem Preis für sein Lebenswerk, der | |
nach dem Ausnahmechefredakteur Theodor Wolff benannt ist, hat der | |
Ausnahmejournalist Michael Jürgs nicht allzu viele Preise eingesammelt. | |
Jürgs war beileibe nicht uneitel, aber solches war ihm egal, dafür stand er | |
lieber jüngeren KollegInnen immer mit Rat und Tat zur Seite. | |
Den Theodor-Wolff-Preis in der vergangenen Woche hat er nicht mehr selbst | |
entgegennehmen können. Seit 2018 litt er an Krebs, in der Nacht zum Freitag | |
ist Michael Jürgs im Alter von 74 Jahren gestorben. Das letzte Wort gebührt | |
ihm: „Immer dann, wenn Politiker oder Journalisten bei der Suche nach dem | |
richtigen Wort an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit scheitern […], | |
schauen sie dem Volk ins Maul. Zu viele Meinungsmacher halten sich zum | |
Volkstribun berufen, statt sich zu besinnen auf die Wurzeln des Berufs: | |
Neugier auf das, was man nicht kennt. Begegnungen mit fremdem Leben | |
aufzuschreiben bringt zudem Mehrwert für das eigene und das der Leser. Auf | |
meinem Grabstein könnte deshalb stehen, aber das ließe sich auch kürzen: | |
Ich habe mein Leben verloren. Wer es findet, darf es benutzen.“ | |
5 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Steffen Grimberg | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Zeitungskrise | |
Verlagswesen | |
Journalismus | |
Stern | |
Leo Kirch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
70 Jahre „Stern“: Die Tristesse von heute | |
Mit packenden Geschichten machte Henri Nannen den „Stern“ zum | |
erfolgreichsten Magazin Europas. Von der einstigen Größe ist nicht mehr | |
viel übrig. | |
ZDF-Doku „Der große Zampano“: Ich und Leo Kirch | |
Der Autor Michael Jürgs zeigt in einer Doku den Aufstieg und den rasanten | |
Absturz des Medienzaren Leo Kirch – und ganz viel sich selbst. | |
Eva-Hesse-Biografie: Schaden benennen | |
Ärgerlich, altbacken, überflüssig: Michael Jürgs ideologische Einlassungen | |
verbauen ihm jeden Zugang zur Biografie der Künstlerin Eva Hesse. |