# taz.de -- Seenotrettung im Mittelmeer: Handeln ohne Profit | |
> Warum werden die Seenotretter kriminalisiert? Sie rufen Europa ein | |
> humanistisches Denken in Erinnerung, das die Festung Europa für | |
> überflüssig erklärt. | |
Bild: Die „Sea-Watch 3“ vor der libyschen Küste | |
Die Bilder, die auftauchen, wenn es heute um Seenotrettung geht, sind jene | |
von Booten voller Menschen, die auf dem Meer herumirren. Sie sind wie das | |
ferne Echo einer anderen Irrfahrt – jener des Odysseus. | |
Dessen Odyssee steht exemplarisch am Beginn der abendländischen Kultur. | |
Jahrelang irrte der Grieche auf dem Heimweg von Troja nach Ithaka auf dem | |
Meer herum. Es ist dies eine Geschichte von Grenzverletzungen und Strafe. | |
Von Schiffbruch und Identitätsverlust. | |
Vor allem aber erzählt sie von jenen Verhaltensweisen, die für die damals | |
aufkommende Kolonisierung lebensnotwendig sind: Gefahren auf sich nehmen, | |
Strapazen aushalten, ins Ungewisse aufbrechen, das Ausgesetztsein ertragen. | |
Aber das, was in der Antike eine Heldengeschichte war: der Held, der sich | |
aufs Meer begibt, um sich zu finden; das, was eine abendländische | |
Ermächtigungserzählung war, aus der das europäische Subjekt hervorging – | |
das kehrt nun in umgekehrter Form zurück. | |
## Carola Rackete hat die Falschen gerettet | |
Die Bedrängten, die Flüchtenden begeben sich nun in anderer Richtung aufs | |
Meer. Aber trotz der Gefahren, der Strapazen und des Ausgesetztseins macht | |
sie das heute nicht zu Helden, sondern zu jenen, die keiner will. Sie sind | |
„Überflüssige“. [1][Carola Rackete] hat die Falschen gerettet. Hätte sie | |
Europäer gerettet, wäre sie nicht verhaftet, sondern gefeiert worden. | |
Menschsein reicht nicht fürs Leben. Das ist die erste Lektion. | |
Greifen die Retter dort ein, wo die europäische Flüchtlingspolitik versagt, | |
wie man immer wieder hört? Das wäre die freundliche Variante. Tatsächlich | |
besteht diese Politik nicht nur in der Uneinigkeit bei der | |
Flüchtlingsverteilung, sondern vor allem auch in einer stillen Einigkeit: | |
Einig ist man beim Ausbau der Festung Europa. Dies bedeutet Frontex – ein | |
militarisiertes Grenzsystem. Dies bedeutet Verträge mit Akteuren vor Ort | |
und seien es dubioseste Warlords. Wie etwa das Abkommen mit Libyen, das | |
jene verheerenden Horrorlager ermöglicht, vor denen das UNHCR warnt. | |
Und dies bedeutet eine Gesetzgebung wie jene Salvinis, die die Seenotretter | |
kriminalisiert. Die tatsächliche Anordnung lautet also nicht: Retter | |
intervenieren dort, wo Europas Politik abwesend ist. Sie lautet vielmehr: | |
Retter gegen die Festung Europa. Das sind die zwei Gesichter dieses | |
janusköpfigen Kontinents. | |
## Salvini ist nicht Kreon | |
Vielerorts wird [2][Carola Rackete] ob ihres entschlossenen Handelns gegen | |
die Vorgaben der italienischen Autoritäten mit Antigone verglichen. Mit | |
jener antiken Heldin, die den im Kampf gefallenen Bruder gegen den Erlass | |
des amtierenden Herrschers Kreon dennoch bestattet. Wie Antigone folgte | |
auch Rackete einem anderen Recht und stellte sich gegen den Befehl. Wie | |
Antigone war auch sie bereit, sich der weltlichen Rechtsprechung zu | |
unterwerfen. | |
Das ist ein Akt zivilen Ungehorsams: Man verstößt aus Gewissensgründen | |
gegen rechtliche Normen und nimmt die Folgen seiner Handlung bewusst in | |
Kauf. „Ich weiß, was ich riskiere“, meinte sie. Das ist ein Pflichthandeln. | |
Ohne Profit. Es entzieht sich der Tauschlogik. | |
Wie bei Antigone ist es auch hier eine Gegenüberstellung von jung gegen alt | |
(oder älter). Mann gegen Frau. Alte Seegesetze gegen neue Gesetze der | |
italienischen Regierung. Aber an diesem Punkt bricht die Analogie wieder. | |
Bei Sophokles’ „Antigone“ geht es um den Konflikt zweier unversöhnlicher | |
sittlicher Ansprüche: jener der Familie auf Bestattung und jener des | |
Staates auf Feindschaft. Salvini hingegen ist nicht Kreon. | |
Er hat die Rechtslage nach eigenem Gutdünken verändert mit seinem Dekret, | |
welches die Einfahrt von NGO-Schiffen in italienische Gewässer untersagt. | |
Ein Dekret, das sowohl gegen die italienische Verfassung als auch gegen das | |
geltende Seerecht verstößt. Keine neue Sittlichkeit, sondern ein | |
widerrechtliches Gesetz. | |
Warum aber werden die Retter kriminalisiert? Nicht wegen der paar | |
Geretteten. Sondern wegen der Moral, die sie in Erinnerung rufen und die | |
sie nähren (und die auch sie nährt, wie die Spenden belegen). Dieser | |
humanistischen Moral bedarf die Festung Europa nicht. Sie ist überflüssig. | |
Das ist die zweite Lektion. | |
23 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
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